Foto: Die schrägen Bravourstücke des Edward Gant in der Cumberlandschen Galerie des Schauspiels Hannover. © Isabel Machado Rios
Text:Jens Fischer, am 22. April 2013
Als Fernsehen und 3-D-Kino noch nicht über das Monopol auf verblüffende Schauwerte verfügten, reisten in Zeiten des viktorianischen Sentiments diverse Freak-Variétés durchs Königreich, sorgten mit aberwitzigen Possen und Zurschaustellung lebender Kuriositäten als menschlicher Wunder für Furore. Eine Zeit, in der auch die gründerzeitliche Postmoderne mit dem Bau der Cumberlandschen Galerie in Hannover triumphierte, von der heute noch das mit barocken, gotischen, romanischen Spielereien geschmückte Treppenhaus existiert – und zum Staatstheater gehört. Ein ideales Bühnenbild fürs Eröffnungsszenario von „Edward Gants Bravourstücke der Einsamkeit“, mit denen Anthony Neilson auf die Schaubudenästhetik des 19. Jahrhunderts verweist.
„Doch die Abartigkeiten dieses Abends sind keine Abartigkeiten der Gestalt, sondern solche von Herz und Geist“, erklärt der Conferencier auf den Treppenstufen. Drei seiner lässig schäbigen Angestellten umkreisen ihn und einander als Planetendarsteller des Sonnensystems. Dann locken sie wie auf dem Jahrmarkt das Publikum in die Show. Schwarz, schwärzer, britisch ist der Humor. Kommt das Stichwort Abtreibung, wird ein Fötus am Halsband einer Frau sichtbar. Erst aber kümmert das Mädchen Sanzonetta unter weißem Spitzentuch vor sich hin, ein lebendige Pizza ist ihr Gesicht: mit Pickeln übersät wie von Mozzarella-Hügeln. Sie treten, monströs mutiert, sogleich höchstselbst auf, ihr Sirenengesang fordert zum Ausdrücken auf – und siehe da, statt eitrigem Glibber gebären sie funkelnde Perlen. Die bösartig eigennützige Schwester nutzt das aus, wird reich und berühmt durch den Perlenhandel, muss der so hässlichen wie gutherzigen Sanzonetta aber den anvisierten Ehemann überlassen, der später seine Liebe einer noch edleren Perlenproduzentin zuwendet: einer Auster … ach, welch moralische, funkelnd morbide Moritat, ihr Herz pocht romantisch. Und pocht weiter im Panoptikum auf der dunklen Seite des Entertainments. Auftritt einer Fettklöpsin, die mit einem Donut als Ehering aufwartet, einen Bienenstich dann aber nicht im Mund, sondern am Hals erlebt und ihren allergischen Schocktod mit einer Breakdance-Einlage illustriert.
Katja Gaudard gestaltet hinreißend die beiden Frauenrollen, brilliert auch als Ziege, Huhn und Teddy. Aber plötzlich ist Schluss mit der Groteskkomik. Selbstreferenzielle Kommentare der Mimen weiten sich zur Debatte über Sinn und Unsinn des Theaters. Die Schauspieler treten aus dem Vaudeville-Spiel, kritisieren diesen „Mischmasch aus absurden Geschichten und billigen Anspielungen“, fordern mehr Realismus auf der Bühne, der „mit der wirklichen Einsamkeit wirklicher Menschen“ zu tun habe. Showmaster Gant behaupt: „In einer Welt, wo uns der Tod zu jeder Sekunde im Nacken sitzt, ist selbst der kleinste Akt der Kreativität etwas Wunderbares, etwas Mutiges. Dass dieses Publikum heute Abend gekommen ist, um mit uns zu träumen – schon das ist ein Akt des Mutes, der Hoffnung: ein Bravourstück der Einsamkeit.“
So viel Theaterliebe rührt uns Theaterliebhaber naturgemäß. Aber nicht ohne Aber. Der Nebel fließt apart milchig über den Bühnenboden, Schneeflocken und Regentropfen gleiten magiewillig über die Szenerie, Glasmusik erregt sanft die Luft, aber mit drei verschiebbaren Stellwänden ist das Bühnenbild so karg wie die Inszenierung ausgenüchtert wirkt. Den Pointen mangelt es an der erschreckenden List des Makaberen. Und Dieter Hufschmidts Conferencier ist so gar nicht der maliziös enigmatische Galan, nur ein Geschichten erzählender Biedermann. Den Melodramoletten fehlt zudem die süffige Atmosphäre, das Traum-Aroma – oder wenigstens ein fantastischer Tim-Burton-Touch. Selten so intensiv wie an diesem Abend wünschte man sich bei einer deutschsprachigen Erstaufführung, dass sie englischer wäre. Trotzdem: Mit einem düster-frisch schillernden Farbton bereichert sie die Vielfalt des Hannoveraner Schauspielangebots.