Text:Frieder Reininghaus, am 22. Oktober 2012
Die zweite Oper des Basler Komponisten Scartazzini stützt sich auf eine relativ bekanntes Stück Literatur: „Der Sandmann“ eröffnete 1816 die Novellen-Sammlung „Nachtstücke“ von von E.T. A. Hoffmann. Dass aus dem geistesgeschichtlich hoch bedeutsamen Text – Sigmund Freud leitete aus ihm seine Studie „Das Unheimliche“ ab – keine „Literaturoper“ nach bewährten Mustern wurde, ist dem Libretto zu verdanken. Thomas Jonigk destillierte neun Szenen und einen Epilog aus der alten Künstler-Novelle, durch die sich ein Problemstück zum Thema „Wahnsinn und Genie“ ergibt und zugleich eine Beziehungsfarce. Dabei entfernte er sich – und dies unterstrich auch die Inszenierung von Christof Loy – streckenweise weit von der literarischen Vorlage.
Es gilt der Nacht und dem, was die deutsche Romantik mit ihr konnotierte: Das Ohrenmerk richtet sich auf nicht nur kindliche Ängste, die den Nächten erwachsen, dem Dunkel im Leben und in den Seelen. Folgerichtig entwickelt sich der Basler Theaterabend aus einem musikalischen Nachtstück. Tomáš Hanus illuminiert mit dem Sinfonieorchester Basel die große Dunkelheit, die zunächst auf der Bühne herrscht, mit den Klängen einer durchaus beredten Theatermusik. Dann schälen sich die Konturen des sparsamst möblierten unbestimmten Handlungsorts heraus – rechts eine lange Bank, auf die sich hier nicht mehr alles schieben lässt, links ein Fenster und ein Berg Stühle, in der Mitte ein Tischchen mit Schreibmaschine vor einem Regal voll Buch-Blindmustern.
In der Hauptsache geht es um die Beziehungs- und Krankengeschichte des aus Hoffmanns Erzählungen bekannten jungen Herrn Nathanael. Der möchte Schriftsteller werden und geht um der Besinnung aufs „Schöpfertum“ willen auf Distanz zu seiner mit beiden Beinen im Leben stehenden, ihm aber zu spröde vorkommenden Partnerin Clara, einer Basler Bankbeamtentochter. Die zweifelt nicht nur an seinem literarischen Talent, sondern – nicht ganz grundlos – an seinem Geisteszustand, hält eine Therapie für dringend geboten. Denn Nathanael wird von der Erinnerung an den schrecklich zu Tod gekommenen Vater heimgesucht, der ihm allemal im Verbund mit seinem sinisteren Geschäftspartner Coppelius erscheint – jener Figur, die in der traumatisierenden Kindheit Sandmann genannt wurde und später von ihm als Quelle alles Übels angesehen wird. Die Auftritte der beiden alten Herren – Thomas Piefka und Hans Schöpflin – akzentuieren komödiantische Aspekte im Grauen. Nathanael, dessen Gemütsschwankungen Ryan McKinny mit seinem geschmeidigen Bariton vorzüglich nachzeichnet, therapiert sich aber auf eine von Clara wohl kaum intendierte Weise, verliebt sich heillos in die rassige Italienerin. Die aber entpuppt sich mit ihrer willkommenen permanenten Ja-Sagerei und überzogenen Willigkeit als chipgesteuertes Kunstprodukt.
Unentschieden blieb in Basel, ob Nathanael tatsächlich seinen Roman zu Papier bringt und den ruhmreichen Augenblick der ersten Dichterlesung nicht auch nur träumt. Jedenfalls überlebt er die Heimsuchungen aus dem Reich der dunklen Ängste nicht. Clara, die sich düpiert fühlt durch den Text des Mannes, „für den sie sich entschieden hat“, zeigt sich sichtbar erleichtert, wenn er schließlich tatsächlich tot ist und sie dieses Kapitel des Lebens abhaken kann. Aber was, bittesehr, könnte bei dieser Handlung als „tatsächlich“ gelten? Die Basler zeigten sich angetan von dem neuen Stück, das sie wohl zunächst ziemlich irritiert hatte.