Text:Dieter Stoll, am 10. Juni 2013
Neulich bei Laura Scozzis turbulenter Nürnberger Inszenierung von “Orpheus in der Unterwelt” waren Chefideologen und andere Religionsführer schon mal auf die Bühne gerufen worden. Jetzt sind sie (nur Hitler hat diesmal frei) wieder da, von Che Guevara bis Mutter Teresa allesamt in der Statisterie verankert, und geben einer Ballett-Oper von 1745 das unter Opernregisseuren so begehrte Siegel der Zeitlosigkeit. Es bleibt bei der Behauptung. Jean-Philippe Rameaus “Platée” ist der Offenbach-Operette zwischen Himmel und Hölle durchaus nahe, werden doch auch hier die Götter um das außerirdische Ehepaar Jupiter und Junon vermenschlicht, wird die Menschheit augenzwinkernd vergöttert und obendrein eine androgyne Kröte, die Frosch Kermit niemals gegen Miss Piggy eintauschen würde, als verspottetes Objekt der Begierde zum Mittelpunkt aller Comedy-Dramatik. Alles in einer um Nahtlosigkeit bemühten Verquickung von Opern- und Tanz-Artistik, wie man sie leider selten sieht.
Es ist eine “Nürnberger Erstaufführung”, gleichzeitig jedoch ein Wechselrahmen für die Straßburger Produktion, die vom Original-Team neu erarbeitet wurde. Mit allen Stärken und Schwächen einer Pauspapier-Kopie, die bewährte Konzepte vervielfältigt, aber deren scharfe Konturen verschwimmen lässt. So war in der Nürnberger Premiere vor allem (und eigentlich ausschließlich) das Philharmonische Orchester aufs Angenehmste überraschend. Die Opernhaus-Musiker, die jenseits der Gluck-Festspiele kein Training mit “alter” Musik haben (vier Intendanzen hatten in Nürnberg über Jahrzehnte sogar die Händel-Renaissance ignoriert) ließen sich vom temperamentvollen Spezialisten Hervé Niquet am Pult abenteuerlustig in die munter pulsierenden, nach wie vor erfrischenden Klangwelten locken. Da gab es reichlich Aha-Effekte – für die Ohren. Aber, das ist nun mal im Theater so, das Auge bleibt offen.
Regisseurin Mariame Clément und Ausstatterin Julia Hansen haben die betagte Travestie, deren Original-Reflexe auf damalige Kultur-Phantome heutzutage dem Publikum nicht mehr viel sagen, mit entschlossenem Schraubgriff in die jüngere Vergangenheit der 1950er/60er-Jahre versetzt. Authentisch bis zum Salzletten-Ständer, vollgestopft mit ästhetischen Zitaten einer Schöner-Schein-Welt aus Petticoats und Karl-May-Festspielen. Eine riesige Schrankwand vor Nierentisch-Design hat im Überraschungswert eines Adventskalenders viele Schubfächer aller Arten für diverse Schauplätze, lässt den quakenden Transvestiten Platée im eigenen Kleinen Horrorladen aus Kolossalblüten schlüpfen (der verkauften Braut ragt später das Ringelschwänzchen aus dem zivilisationsbedingten Glocken-Rock), zitiert aus den ersten TV-Studios samt Werbeblock und lässt Amor in Marilyn Monroes Leih-Garderobe auftreten. Schade, dass Conny und Peter keine Zeit für die Party hatten.
Die Ballett-Compagnie – es ist erkennbar nicht die Truppe des gefeierten Spartenchefs Goyo Montero – bleibt unter der mäßig inspirierten Leitung von Joshua Monten abendfüllend im Standby-Modus, springt also allzeit bereit in alle Zwischenräume mit eher gymnastischen Übungen, die am Ende im Badeanzug-Kollektiv wie eine eckige Hommage an die verstorbene Esther Williams wirken. Das Abheben ins Groteske gelingt nicht mal, wenn Rameaus zündendes Feuerwerk direkt in Richtung „Saturday Night Fever“ gelenkt wird. Die Revue bleibt am Operetten-Boden kleben.
Zum Teil auch, weil die Sänger immer den Anlauf zeigen, den sie zum Sprung in die Comedian-Position brauchen. Tilman Lichdi, der begnadete Mozart-Sänger, bewältigt die Titelpartie ebenso wie Tenor-Kollege Martin Platz sein Doppel Thespis/Mercure sehr passabel. Nürnbergs Allzweck-Sopranistin Leah Gordon (Thalie/La Folie) hat schon mehr mit Koloratur-Schnörkel und Höhen-Explosion zu kämpfen. Alle anderen (Randall Jakobsh, Lussine Levoni, Sébastien Parotte, Franziska Kern) kommen erkennbar aus anderen Opernwelten, lassen an ihrer Mühe teilhaben, vokal wie darstellerisch. Am Ende sind die fünfziger Jahre so fern wie Jupiters Gottesbeweise und der Promi-Aufmarsch in der Statisterie. Rameaus Musik lässt alles hinter sich. Und das Publikum, zur Pause erkennbar genervt, applaudierte dann doch freundlich.