Foto: Christian Löber, André Jung, Joel Small, Joyce Sanhá in "Liebe (Amour)" © SF/Matthias Horn
Text:Anne Fritsch, am 31. Juli 2023
Karin Henkel inszeniert bei den Salzburger Festspielen „Liebe (Amour)“ nach dem Film von Michael Haneke. Sie will die großen gesellschaftlichen Debatten von Pflegenotstand bis Sterbehilfe thematisieren – und verliert dabei mehr als sie gewinnt.
„Liebe“ hat Michael Haneke seinen Film aus dem Jahr 2012 genannt, im französischen Original: „Amour“. Der Film erzählt von einem alten Ehepaar, dessen Leben von einem Moment auf den anderen aus den Fugen gerät, als Anne einen Schlaganfall hat, zum Pflegefall wird. Am Ende drückt Georges seiner Anne ein Kissen aufs Gesicht, erstickt sie. Aus Liebe? Aus Überforderung? Ist das wirklich eine Erlösung? Oder doch einfach ein ziemlich brutaler Mord? Und wo ist Georges, als die Feuerwehr schließlich die Wohnung aufbricht und die feierlich drapierte Tote in den verlassenen Räumen findet? Haneke kommentiert nicht, lässt die Fragen und die Ratlosigkeit stehen und wirken.
Sehr viel früher, als Anne noch sprechen kann, sagt sie in einer sehr ruhigen Szene in diesem ohnehin sehr ruhigen Film zu ihrem Mann: „Es gibt einfach keinen Grund weiterzuleben. Ich weiß, dass es einfach nur noch schlimmer wird.“ Und: „Die Vorstellung und die Wirklichkeit haben wenig gemein.“ Sie empfindet sich bereits da als Last, ahnt, dass die Wirklichkeit als Pflegefall nichts mit einer romantischen Vorstellung des Sich-um-einander-Kümmerns zu tun haben wird. Sie ringt ihrem Mann dieses Versprechen ab, das ihn nicht mehr loslassen wird: nie wieder Krankenhaus. Es ist eine traurige Geschichte, eine des Verfalls, der Aufopferung, aber auch eine der Hilflosigkeit, der Grenzüberschreitungen und des Verlusts von Würde. Der meisterhafte Film von Michael Haneke fasst all das in Bilder, die in ihrer direkten Wirkung ohne viele Worte auskommen. Ohne Frage ist das eine Liebesgeschichte, eine tragische und bis zu einem gewissen Punkt alltägliche, wunderbar gespielt von Emanuelle Riva und Jean-Louis Trintignant.
Ein Chor der Versehrten
Die Regisseurin Karin Henkel hat diesen Film nun fürs Theater adaptiert, ihn bei den Salzburger Festspielen als Koproduktion mit den Münchner Kammerspielen inszeniert. Auch sie hat zwei starke Hauptdarsteller:innen an ihrer Seite: Katharina Bach und André Jung. Bach gelingt es mühelos, sowohl die alte kranke Anne zu spielen als auch die junge. Immer wieder bricht die vergangene Unbeschwertheit, das überbordende Leben aus ihr heraus. Doch im Zentrum dieses Abends steht André Jung, der rotiert zwischen seinen neuen Aufgaben, sich aufreibt zwischen Zärtlichkeit und kompletter Überforderung. Diese beiden Spieler:innen hätten durchaus das Potential, die Wirkung des Films auf die Bühne zu zaubern.
Doch Karin Henkel will mehr. Sie will den Kommentar, reichert das klaustrophobische Kammerspiel Hanekes unter anderem mit Texten von Gabriele von Arnim an, die in ihrem autobiographischen Buch „Das Leben ist eine vorübergehender Zustand“ von den zehn Jahren erzählt, in denen sie ihren Mann nach dessen Schlaganfall bis zu seinem Tod pflegte. Zusätzlich umstellt sie das Paar mit einem Chor der Versehrten, der echten Alten und Kranken, will die Dringlichkeit des Themas betonen, den gesellschaftlichen und politischen Aspekt, indem sie Realitäten wie die knallharte Abrechnung von Pflegeleistungen durch die Krankenkassen mit einbringt. Natürlich hat Henkel Recht, wenn sie im Programmheft schreibt: „Es wäre langweilig, einfach den Film nachzustellen. Das ist nicht das, was eine Bühnenadaption verlangt.“ Leider aber erreicht ihre Fassung nicht die Intensität der Vorlage. Sie kommt belehrend daher, verliert sich in zu vielen Strängen und wagt sich nicht dahin, wo es wirklich wehtut. Haneke dagegen beschönigt nichts. Im Film sieht man, wie die echte nackte Frau gewaschen wird, wie ihr von einer Pflegerin die Windel angelegt wird. Im Theater wird diese Technik lediglich an einer leblosen Gummipuppe erklärt. Der Verlust der Intimität bleibt Behauptung.
Die Not der Hilflosigkeit
Hanekes Film ist ein Meisterwerk der Ausgewogenheit, der beide Seiten, beide Nöte erfahrbar macht. Indem Henkel nun die geliebte kranke Frau einreiht in eine ganze Riege Kranker, bringt sie dieses fein austarierte Gleichgewicht durcheinander. Es geht nun weniger um diese beiden als um das Problem der Pflege an sich. Die zärtlichen Szenen zwischen den Liebenden weichen einem ständigen Trubel. Die Regisseurin überfrachtet den Stoff, macht das Geschehen zur Farce und nimmt ihm eher Dringlichkeit als ihm neue hinzuzufügen. Denn ganz ehrlich: dringlicher als die Not bei Haneke, die diesen Mann dazu bringt, seiner geliebten Frau ein Kissen aufs Gesicht zu pressen, bis sie aufhört zu zappeln – dringlicher geht ja kaum, oder? Die Themen, die in der Gesellschaft brennen, sind ganz selbstverständlich Teil dieser Geschichte. Pflegenotstand, Überforderung, Sterbehilfe. Das Universelle schwingt immer mit, die gesellschaftlichen Debatten bekommen ein Gesicht, werden greif- und fühlbar. Einen belehrenden Impetus braucht es nicht.
Henkel aber multipliziert die Kranke bis zur völligen Austauschbarkeit, zum Schicksals-Overload. Sie nimmt der Geschichte ihre Seele. Wenn man so will: die titelgebende Liebe. Auf der Rückwand der Bühne, die Muriel Gerstner entworfen hat, steht in großen Lettern „Amour“. In diesem aufgeregten Setting wirkt es wie die Reminiszenz an ein Gefühl, das hier längst keinen Raum mehr hat. Hier bleibt nur der Dreck, der ganz real und sehr schnell hereinbricht: Die Decke öffnet sich, auf die klinisch weiße Bühne fällt ein Haufen Erde, der quasi schon einen Grabhügel bildet im Zentrum dieser artifiziellen Szenerie. Das Ende der Liebe, hier ist es alternativlos. Der Komplexität des Themas wird diese Inszenierung leider nicht gerecht.