Szene aus "Nathan der Weise"

Es dreht sich ewig im Kreis

Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise

Theater:Salzburger Festspiele, Premiere:28.07.2023Regie:Ulrich RascheKomponist(in):Nico van Wersch

 

Mit Ulrich Rasches Inszenierung von „Nathan der Weise“ eröffnet das Schauspielprogramm der Salzburger Festspiele: Vier Stunden lang wirkmächtiges Chor-Theater münden in fabelhafte Bühnen-Bilder, führen aber auch zu Leerläufen.

Ein Hauch von Nebel liegt über den Zuschauerrängen, während das Publikum auf die Perner Insel in Hallein, die weitläufige Außenspielstätte der Salzburger Festspiele, strömt. Bevor Ulrich Rasches Inszenierung von „Nathan der Weise“ überhaupt begonnen hat, ist da schon viel Atmosphärisches. Schließlich betreten schwarz gewandete Figuren die verwaiste Bühne.

Die gewaltige Drehbühne der Perner Insel wird in den kommenden vier Stunden ohne Unterlass rotieren, die Schauspieler:innen auf Trab halten. Als wären sie zum ewigen Marschieren verdammt, stemmen sie sich entweder gegen die Drehrichtung oder bringen sich in Einklang. Alles, nur kein Stillstand.

Perfekte Schauspielerin für den Nathan

Valery Tscheplanowa, die in Salzburg kurzfristig für die erkrankte Judith Engel eingesprungen ist, verkörpert die Titelrolle. Nathan nicht als alten weisen/weißen Mann zu besetzen, ist ein Glücksgriff dieser Inszenierung. Tscheplanowa wiederum gelingt es dank ihres überragenden Theatertemperaments, sich selbst in diesem formal strengen Korsett frei zu spielen, eine Figuren-Interpretation hinzulegen, die an Klarheit und Schärfe schwer zu übertreffen ist. Wie sie die berühmte Ring-Parabel darbietet, ist der Höhepunkt der Inszenierung!

Das Gleichnis von den drei Ringen gilt als ein Schlüsseltext der Aufklärung, der pointiert Bigotterie, Intoleranz und Missionierung anklagt. Nathan ist hier nicht nur Lessings Sprachrohr, in der Figur setzte der Autor auch seinem Freund, dem jüdischen Philosophen Moses Mendelssohn, ein literarisches Denkmal.

Im Jahr 2023 ist Tscheplanowa die Idealbesetzung für diese Paraderolle, um in einer Gesellschaft, die nach wie vor von Religionszerwürfnissen heimgesucht wird, als Stimme der Vernunft aufzutreten. Ihre Darstellungskraft bricht sich selbst in Rasches stark vorgegebenem Setting Bahn, was leider nicht allen Darsteller:innen gelingt. Nur Memet Ateşçi ist ein ebenbürtiger Spielpartner. Ateşçi verkörpert den Tempelherren, der Recha (Julia Windischbauer), Nathans Ziehtochter, aus dem brennenden Haus rettet – und so das Vexierspiel um Religion und Identität in Gang setzt.

Neuerfindung einer Klassikers mit Theaterchor

Vier Stunden lang erkunden Regisseur Rasche und sein 14-köpfiges Ensemble bei den Salzburger Festspielen vor allem  Spielarten des rhythmischen Gehens – vorgebeugter Oberkörper oder kerzengerade, mit oder ohne Hüftknick, die Haltung der Hände so oder so. Die ständig wechselnden Anordnungen von Personengruppen und Protagonisten:innen im Raum werden zu zentralen Inszenierungselementen.

Die Etablierung eines Chores, der bei Lessing gar nicht vorgesehen ist, erweist sich als überaus sinnfälliger inszenatorischer Eingriff: Damit unterstreicht Regisseur Rasche die Außenseiterposition der Titelfigur zusätzlich. Nathan, der jüdische Kaufmann und Gelehrte, der sich in einer muslimisch und christlichen Mehrheitsgesellschaft bewähren und um „Leib und Leben! Gut und Blut!“ kämpfen muss, wie es im Stück heißt. In Salzburg steht Tscheplanowa als Nathan meist mutterseelenallein einem Kollektiv gegenüber, was ziemlich effektvoll wirkt.

Nicht minder dramatisch der Einsatz des Lichtes: Wie Rasche, der auch immer sein eigener Bühnenbildner ist, und Lichttüftler Alon Cohen mit Lichtsetzungen und -brechungen Räume aus Helligkeit erzeugen, ist schlichtweg fantastisch: Bei manchen Auf- und Abtritten scheint es, als würden die Darsteller:innen buchstäblich aus dem Licht heraus auftreten – und im Licht wieder verschwinden. Endlich kommt auf diese Weise die Bühne der Perner Insel in ihrer ganzen Größe und Großartigkeit zur Geltung. Um Wirkung zu entfalten, braucht dieses Lichtspiel nämlich einen Bühnenraum im XXL-Format.

Starke Bilder mit Abnutzungseffekt

Wie Rasche die Spieler:innen dabei arrangiert. Sie Spielfiguren gleich hin- und herschiebt, zu immer neuen bewegten Bildern formiert, sucht seinesgleichen. Überhaupt scheint es, als definiere Rasche zunehmend sein eigenes Genre: Die Kombination aus chorischem Sprechen und taktgebender Live-Musik (Komposition: Nico van Wersch) weisen bei dieser Inszenierung in Richtung Musiktheater: Lessings Versmaß und Sprache, die ganz in ihrer Antiquiertheit belassen wurden, tendieren fast schon zu einem Libretto hin. Die gekünstelt und absichtsvoll zerdehnte Sprechweise verdeutlicht das zusätzlich: Es würde einen nicht wundern, wenn auf der Bühne plötzlich jemand zu singen begänne.

Die rastlos im Kreis walzenden Schauspieler:innen kümmern sich wiederum mehr um Choreografien als um handelsübliche Schauspielerei. Es nähme einen auch nicht Wunder, dass der oder die aus der durchgetakteten Choreografie ausbräche, ein paar ungestüme Tanzschritte hinlegte. Rasche, Master of Ceremonies, macht die Spielregeln – und die Schauspieler:innen haben alle Hände und Füße voll zu tun, um in diesem hermetisch abgeschlossenen Kunstuniversum nicht unterzugehen.

Die hohe Kunstfertigkeit und außerordentliche Künstlichkeit ist Trumpf und zugleich Achilles-Ferse von Rasches Inszenierung bei den Salzburger Festspielen: Über weite Strecken wird auf der Perner Insel in Salzburg schlicht Text rezitiert, was im Lauf von vier langen Stunden zunehmend zermürbt. Der Chor spricht häufig monoton, und sobald die Protagonisten auftreten, erinnert das mitunter an eine Predigt, da die Akteur:innen den Text frontal ins Publikum richten. Dadurch wird jede Textzeile mit Bedeutung aufgeladen, selbst wenn es nicht um sonderlich Bedeutsames geht. Das nutzt sich im Lauf der Zeit ab, wirkt auf die lange Strecke leicht manieriert. Zum Hochamt fehlt dann nur noch Weihrauch.