Foto: Remo Beuggert, Simone Gisler, Robin Gilly, Minhye Ko (Live-Musik), Tiziana Pagliaro © Salzburger Festspiele/Monika Rittershaus
Text:Anne Fritsch, am 13. August 2023
Helgard Haug inszeniert bei den Salzburger Festspielen „Der kaukasische Kreidekreis“ nach Bertolt Brecht. Mit einem Ensemble mit kognitiven Beeinträchtigungen stellt sie die Frage nach Mutterschaft neu – und blickt in dem Streit zweier Mütter auch auf die Bedürfnisse des Kindes.
Es ist eine Spielanordnung, ein Experiment mit scheinbar offenem Ausgang. Die Bühne, die Laura Knüsel entworfen hat, sieht aus wie ein überdimensionales Spielbrett: grüne und pinke Felder, auf denen die Figuren vorrücken können, zurückfallen oder aufeinander treffen. Die Regisseurin Helgard Haug hat sich für die Salzburger Festspiele gemeinsam mit dem Ensemble des Zürcher Theater HORA ein selten gespieltes Stück von Bertolt Brecht vorgenommen: „Der kaukasische Kreidekreis“. Parabelhaft wird die Frage verhandelt, was eine gute Mutter ausmache: Die Zeit und Liebe, die eine in das Kind investiert? Oder die biologische Mutterschaft? Kümmern oder gebären? Konkret geht es um den Fall der Magd Grusche, die das Kind der Fürstin aus den Unruhen der Revolution rettet, nachdem diese es zurückgelassen hat. Als die leibliche Mutter viel später doch die Mutterschaft beansprucht (um an das Erbe des Kindes zu kommen), will Grusche es nicht mehr hergeben. Es gibt eine Verhandlung, in der der berühmte Kreidekreis zum Einsatz kommt: beide Mütter sollen das Kind herausziehen, auf ihre Seite. Bevor das Kind zu zerreißen droht, lässt Grusche es los – und beweist sich so als echte, weil liebende Mutter.
Wiederholung und Variation
Das Theater HORA ist eine der in Europa bekanntesten Gruppen, die mit Schauspieler:innen mit kognitiver Beeinträchtigung arbeitet. Helgard Haug, die gewöhnlich im Kollektiv Rimini Protokoll daheim ist, hat das Brechtsche Stück auseinander genommen, um es für dieses Ensemble neu zusammen zu setzen. Sie bastelt eine Fassung, die am Ende erstaunlich viele Details des Originals bewahrt, sie aber mit ungewohnten Blickwinkeln und Fragen anreichert. Die zentrale Familienaufstellung im Kreidekreis kommt hier gleich zu Beginn, sie wird an diesem Abend achtmal wiederholt und variiert werden, bis eines glasklar ist: Niemand ist perfekt. Nicht als Mutter, nicht als Kind. Die eine Antwort auf die Frage, wer die beste Mutter sei, gibt es nicht. Und noch eines: Vielleicht kommt es darauf auch gar nicht an.
Nach einer Stunde schon ist das Ensemble am Ende von Brecht angekommen, das Kind würde nun Grusche zugesprochen, der „Mütterlicheren“ von beiden. Doch an diesem Punkt geht es hier erst los. Remo Beuggert, der den Richter spielt und wie ein Conférencier durch den Abend führt, fragt: „Ist das eine gute Entscheidung?“ Und weiter: „Was, wenn wir das Kind entscheiden lassen?“ Immer wieder wechselt er die Perspektive, hält die Balance zwischen Erlebtem und Erdachten, zwischen Wirklichkeiten und Möglichkeiten. Wer, wenn nicht die Kinder, könnten und sollten entscheiden, wer als Eltern geeignet sind?
Neben Argumenten kommen nun auch schnell Bestechungsversuche ins Spiel: IPhone oder Geborgenheit? Bluetooth-Kopfhörer oder gemeinsame Zeit? – Was das Ensemble, bestehend aus Remo Beuggert, Robin Gilly, Simone Gisler, Minhye Ko, Tiziana Pagliaro und Simon Stuber, uns hier vorspielt, ist eine starke Leistung. Wie Simone Gisler als Grusche ihre Traumhochzeit samt karibischen Flitterwochen und heißem Sex imaginiert, ist großartig. Es ist skurril, witzig und bedrückend zugleich, wenn Robin Gilly als Kind im Kreis auf dem Boden liegt und immer wieder fragt: „Wer kümmert sich jetzt um mich? Hier liege ich, ganz allein.“ Indem das Kind hier eine Stimme erhält, nicht nur sprachloser Säugling ist, kommt eine zusätzliche Dynamik in Brechts etwas starre Modellsituation.
Was wäre, wenn?
Immer wieder wird die sogenannte „Probe“ wiederholt, anfangs tatsächlich im Kreidekreis, später dann losgelöst von diesem. Vielleicht gäbe es ja auch noch ganz andere Optionen? Eine der anderen Figuren? Gar ein:e Zuschauer:in? Das Ensemble spielt ein wenig pflichtschuldig alle Optionen durch, was irgendwann etwas ermüdend wird. Irgendwann – das ist die vierte Probe – verteilen die Spieler:innen Bücher ans Publikum, in denen ihre eigenen Familiengeschichten, ihre Wünsche und Vorstellungen nachzulesen sind. Es sind Geschichten von Familien, die anders sind. Weil die Kinder anders sind oder die Eltern. Keine perfekt, alle besonders. „Ich bin das sechste Kind und das speziellste“, sagt Gilly einmal strahlend. Die Mischung aus Persönlichem und Brechtschem geht über weite Strecken gut auf, diese Anreicherung der Parabel mit dem eigenen Erleben.
Dieser Abend tut vor allen Dingen eins: Er fächert die Komplexität der Ausgangsfrage auf und stellt neue. Am Ende bleibt ein Gedanke im Raum stehen: Was, wenn Grusche nicht gefallen hätte, was sie gesehen hat? Wenn das Kind nicht so kerngesund, propper und süß gewesen wäre? Hätte sie auch ein krankes Kind mitgenommen? Ein behindertes? „Was, wenn es so ausgesehen hätte wie ich?“, fragt Gilly, das Kind. Aus der Frage, welche Mutter gut genug ist, erwächst noch eine andere: Welches Kind ist gut genug? Sie hallt nach.