Foto: Szene mit Shakira Ntakirutimana,Sabrina Kaulinge, Helouis Goraseb und Adam Eiseb. © Uwe Lewandowski
Text:Jens Fischer, am 28. Mai 2016
Sprossenwände zieren den Raum, Turnhallenanmutung. Assoziation: Flüchtlingsunterkunft. Oder Vorbereitung auf den Lebenskampf. Der Bühnenboden wird durch Steinmarkierungen parzelliert und Saatgut ausgebracht. Dort soll geordnet etwas wachsen, erblühen und reichliche Ernteerträge einbringen. Nämlich einen inhaltlich, ästhetisch, menschlich und vom Ticketverkauf her überzeugenden Theaterabend – der von Menschen erzählt, die auf heimatfremden Boden gedeihen sollen. Mit „Oshi-Deutsch“ erinnert das Theater Osnabrück an 400 Kinder, die von der Südwestafrikanischen Volksorganisation (SWAPO) in die DDR geschickt wurden. Abseits der Bürgerkriegswirren, aber eben auch abseits der Eltern sollte der Nachwuchs ausgebildet – und nach dem Sieg gegen die Besatzungsmacht, das südafrikanische Apartheidsregime, als Führungselite des marxistischen Namibia reimportiert werden. Der Arbeiter und Bauerstaat richtete ein Eliteinternat weitab des realsozialistischen Mangelalltags her, im mecklenburgischen Jagdschloss Bellin (nahe Güstrow).
Gernot Grünewald versucht nun nicht das Thema anhand einiger Beispielsbiografien zu verdichten, sondern den großen historischen Aufriss. „Remember and don’t forget“ steht auf Pappschildern, die ein Junge hochhält. Gemeint ist der 4. Mai 1978, ein von Südafrika verantwortetes Massaker in einem SWAPO-Flüchtlingslager. Heute ein Gedenktag in Namibia, damals Anlass für die Kinderverschickung. Und wie inszeniert man das?
Es sind Kinder der namibischen DDR-Kinder auf der Bühne. Sie sprechen per Kopfhörer eingeflüsterte Interviewpassagen ihrer Eltern nach, Profischauspieler die der Erzieher. Oder sie imitieren lippensynchron im Playbackverfahren die Zuspielungen der O-Töne. Ein Reenactment der recherchierten Aussagen. Von streng organisiertem, nicht gewaltfreiem Leben geht die Rede, von Übungen an der Waffe, die hier „Schutzausbildung“ heißt. Aber auch vom ersten Erleben zuckriger Festlichkeit und bezuckerter Landschaft: Weihnachten im Schnee. Bald beherrschen die Kinder ihr Deutsch besser als ihre eigene Sprache Oshivambo. Aber sie schreiben nur „mechanisch“ wie eine Lehrerin beklagt. Ahmen also gekonnt nach, gehen nicht beseelt darin auf. Was auch das Problem der Aufführung beschreibt. Die Geschichte wird bebildert, nicht erzählt. Zu sehen ist vor allem, wie das Bühnenpersonal das nachspielt, was es in Dokumentaraufnahmen der damaligen Zeit auf TV-Schirmen vorgeführt bekommt. Tanz-, Kreis- und Singspiele, Turnübungen, Sitzordnungen, eine Schuhputzen-Choreografie. Das Nachahmen ist aber nie Anlass zur Irritation. Ist kein Befragen. Selbst dann nicht, wenn afrikanisches Leben nachgestellt werden soll – und Krieg gespielt wird. Alles nur Reenactment der recherchierten Bilder. Sachlich und ernsthaft. Handwerklich aber nur lässig durchgearbeitet und nicht zu einem rhythmisch strukturierten Aufführungsfluss entwickelt. Lebendig wird es auf der Bühne nur, wenn zwei Musiker mit afrikanischen Heimatklängen an Sehnsüchte rühren, zum Tanzen animieren, aber auch den Soundtrack für Erzählungen von Einsamkeit liefern: nachts in den Schlafsälen, wenn die Kinder träumen und bettnässen.
Während die Erwachsenen in ihrem SED-Propagandadeutsch schwärmen, dass toll vermittelt werde, „wie angenehm Sauberkeit ist“ und wie „normgerechtes Verhalten“ geht. Und was der Auftrag ist. Der im Kinderdeutsch so klingt: „Wir werden dem Feind den Hintern versohlen.“ Eingepaukt werden Feindbilder: Südafrika und der Kapitalismus. „Aber dort gibt es die besseren Produkte“, entdecken die Kinder sehr bald. Als Jugendliche werden sie in die „Schule der Freundschaft“ nach Staßfurt (Sachsen-Anhalt) verlegt, einer 25.000-Einwohner großen Stadt, wo ihr Internatleben zwar noch Kasernen-rigider gestaltet wird als zuvor, erstmals aber auch Verlockungen des Intershops gekostet, Discos besucht, Freundschaften geschlossen werden können – und auch erste rassistische Anfeindungen erlebt werden müssen.
Dann, 1989, siegt die SWAPO – und verliert die DDR. Nach elf Jahren SED-pädagogischer Erziehung werden die Namibier schnellstmöglich entsorgt. Sozialisiert in einem Land, das es nicht mehr gibt, kommen sie heim in ein Land, das sie nicht kennen. FDJ-Pionierlieder auf den Lippen, aber vom Alltag in den Townships oder von landwirtschaftlicher Arbeit auf trockenen Savannenböden keine Ahnung. Und in Sachen Lebensstandard einfach anderes gewohnt. Was nun? Was passiert? Jetzt wird es spannend. Aber die jungen Darsteller erwähnen nur noch kurz ihren Stolz auf die sozial erfolgreichen Eltern. Die uns bisher noch gar nicht vorgestellt wurden und als Best-practice-Beispiele wohl eher, wie immerhin angedeutet wird, die Ausnahme als die Regel sind. Dann ist einfach Schluss. Jetzt wo die Geschichte bei den Darstellern ankommt, Weltgeschichte sich in persönlichen Dramen zwischen allen Welten ausdrückt und das Theater beginnen könnte, hört es auf. Nun wo die übergreifende Frage, was Heimat ist, wie Identität in der Entwurzelung herbeizuzaubern und Integration möglich wäre, man also auch mitten in der Flüchtlingsproblematik ist, kommt einfach nichts.
Die ganze Faktenabhaken des DDR-Teils, den Gernot Grünewald inszeniert hat, wäre im Programmheft prima aufgehoben gewesen, damit der zweite, viel zu kurze, von Sandy Rudd, künstlerische Leiterin des National Theatre of Namibia, inszenierte Namibia-Teil mehr Aufführungszeit bekommen hätte. In Osnabrück ist er nur ein Anhängsel, wie ein PS der Aufführung. Die ausgestreute Saat ist da übrigens längst vom Boden gefegt: keine Keimchance, da nie bewässert, einfach vertrocknet wie der in dieser Geschichte keimende Theaterstoff.