Ensembleszene

Schreckenskammer der Mittelschicht

Philipp Löhle: Firnis

Theater:Saarländisches Staatstheater, Premiere:07.06.2024Regie:Christoph Mehler

Christoph Mehler inszeniert „Firnis“  von Philipp Löhle am Staatstheater Saarbrücken und betont vor allem die finale Völlerei. Auf einer retrospektiven Bühne zeigen die Darstellenden den Abstieg der Mittelschicht.

In Mitteleuropa ist die Sklavengesellschaft zurück. Jedenfalls bei der Uraufführung von Philipp Löhles jüngstem Stück in der Saarbrücker Alten Feuerwache. Jener dünne Firnis der Humanität, der die westliche Zivilisation wie der Schutzfilm eines Gemäldes überzog, zeigt sich gründlich abgerieben. Gefragt sind allererst Lustsklaven für unterschiedlichste Bedürfnisse. Leute wie der einst gutbürgerliche und nun in Schuldenfalle und Obdachlosigkeit abgerutschte Leonard Müller. Gleich so vielen auf der Straße Lebenden bezieht er Prügel. Psychologin Konstanze Wagner, Freundin ökologischer Landwirtschaft, höchst klimabewusst und scheinbar sozial kompetent liest den Verletzten auf und quartiert ihn im heimischen Gästezimmer ein. Miete kann Leonard nicht aufbringen, dafür versucht er sich im Haushalt nützlich zu machen, saugt, wäscht und bügelt. Weil der Domestik, zu dem er sich selbst erniedrigt hat, nun einmal in Abwesenheit des Gatten verfügbar ist, benutzt die Psychologin ihn, um ihre sexuellen Wünsche auszuleben.

Konsequent treibt Philipp Löhle daraus eine Horrorstory hervor. Denn bald muss Leonard der gesamten Familie sexuell zu Willen sein. Solche Brauchbarkeit stachelt zunächst den Sohn des Hauses und später die Eheleute dazu auf, ihn zusätzlich als Objekt ihrer Gewaltfantasien zu erproben. Familie Wagner stopft Exkremente in ihn hinein, traktiert ihn mit Taser und Messer. Unerbittlich verwandelt Löhle sukzessive soziales Engagement in sexuelle Ausbeutung und später Folter. Die Grausamkeit der Wagners hätte Caligula entzückt. Selbst Woyzeck hätte seine Fährnisse denen Leonard Müllers vorgezogen. Doch nimmt der Schrecken noch zu: Wirtschaftlich erfolgreich, wie die Psychologin und ihr Gatte sind, liegt die Monetarisierung der eigenen Obsessionen nahe. Zumal eine Patientin der Seelenkundlerin bekennt, Notärztin geworden zu sein, um Hände und Arme in Blut und Eingeweide zu tauchen. Künftig darf sie ohne jede medizinische Ambition und schlechtes Gewissen in des Wagnerschen Haussklaven Wunden graben und seinen Lebenssaft auflecken.

Statusverlust degradiert zum Freiwild

Leonards Los ist Legion, es trifft zuallererst gesunkene Mittelschicht. Die Peiniger rekrutieren ihre Opfer aus einstigen umweltbewussten Standesgenossen: den Autohändler, der keinen Absatz für seine Elektrofahrzeuge findet oder die mit ihrem Anschlag auf einen Supermarkt gescheiterte Klimaaktivistin. Sie alle werden der unter Notärztin firmierenden Schlächterin ans Messer geliefert. In den Augen der Herr- und Herrinnenschaft unproduktive Existenzen, die – nachdem man sich an ihnen abreagiert hat – umstandslos zu entsorgen sind, schaden diese Überzähligen sonst doch ohnehin nur der CO2-Bilanz.

Während Löhles Stücktext das Gemetzel herausstreicht, hebt Regisseur Christoph Mehler eher auf die finale Völlerei mit Fleisch- und Wurstwaren ab, zu denen das Personal offenbar verarbeitet wurde. Angetan mit Fatsuits, gebärdet sich die selbsternannte Elite wie beim Gastmahl des Trimalchio im Satyricon des Petronius. Zuvor wird unter vehemntem Körpereinsatz geschrien, kopuliert, gedemütigt und gefoltert, was das Zeug hält. Oft rücken die Spielenden dem Publikum bis vor die Schuhspitzen der ersten Reihe. Stefano Di Buduos Bühnenraum gibt sich retrospektiv. Betonstufen führen auf ein Podest. Das Firmenschild des Autohauses ebenso wie eine Telefonzelle lassen die Wirtschaftswunderjahre ahnen. Längst hat alles dies seine beste Zeit hinter sich. Raimund Widra ist Schmerzensmann Leonard Mülller. Ob vom hohen Podest die Stufen hinab stürzend, vom Taser oder Messer zugerichtet, Widra verleiht den Qualen, die seine Figur auszustehen hat, unmittelbare Gegenwart. Für Psychologin Konstanze Wagner wechselt Christiane Motter vom Sattel woker Phrasen in den der ausgepichten Sadistin. Mit den weiteren Spielenden vereinen sich diese Beiden zu Bewohnern von Schreckenskammern der Mittelschicht.