Text:Joachim Lange, am 13. Mai 2013
David Pountney brachte vor drei Jahren in Bregenz „Die Passagierin“ von Mieczylaw Weinberg (1919-1996) groß heraus. Mit dem ganzen Ernst, den eine Oper über Auschwitz erfordert. Damit und mit einem flankierenden Programmschwerpunkt stellte er diesen Komponisten auf den Platz in der europäischen Opernwelt, der ihm gebührt. Auch nach der Uraufführung der komplett instrumentierten Fassung seiner 1986 vollendeten Literaturoper „Der Idiot“ nach Fjodor Dostojewskis berühmter Romanvorlage fragt man sich wiederum: wieso erst jetzt?
In Polen geboren, floh er vor der Judenverfolgung den Nazis ins Reich Stalins. Dort rettete ihn später auch nur Schostakowtischs Fürsprache und der Tod des Diktators vor der möglicherweise barbarischen Konsequenz des Gulag. Schon diese Vita und seine immer mal in den Westen durchgedrungene symphonische Meisterschaft (bei über 20 Sinfonien!) rechtfertigen die Neugier auf seine (insgesamt sieben) Opern. Dass er zeitlebens in der Sowjetunion blieb, erklärt seine bescheidene Schattenexistenz nur zum Teil. Denn schalldicht war der Eiserne Vorhang ja nicht. Die dogmatische Vorherrschaft der Neutöner im Westen mit ihrem radikalen Neuerungsgebot tat ein Übriges.
Im musikalischen Umfeld der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts wirkt diese Oper tatsächlich etwas aus er Zeit gefallen. Knüpft sie doch nahezu bruchlos an die spezifisch russische Weiterführung einer spätromantischen Musiktration an, die weder auf das große Orchester, noch das Tonale oder die Vorliebe für die großen vokalen Bögen verzichtet.
Weinbergs „Idiot“ ist eine große Oper. Schon der puren Dauer von über drei Stunden reiner Musik wegen. Die Romanvorlage hat es ja auch in sich. Die großen Panoramabilder der Russen sind auf der Bühne eben nicht im Kammerspielvormat zu haben, sondern nur als riesige Gemälde. Wobei „Der Idiot“ auch etliche intime Szenen bereithält. Aber Russland ist groß und hat Platz für viele Töne. Und für großes Pathos. Selbst wenn es nicht gleich um eine Draufsicht im großen vaterländischen Krieg-und-Frieden-Format geht. Sondern um eine eher diffizile und auf die Einzelnen fokussierte Sicht.
Fürst Myschkin ist bei Librettist A. Medwedjej und Weinberg, aber auch bei Regisseurin Reugla Gerber, keineswegs ein pathologischer Exot. Sicher, er ist nicht so robust wie all die anderen. Deren Selbstverständnis ruht in ihren gesellschaftlichen Rollen, deren Grenzen sie öffentlich respektieren und heimlich überschreiten. Vor allem, wenn es um das Verhältnis zur schönen Nastassja Filippowna geht. Die Männer liegen dieser von Ludmila Slepnewa in die Verwandschaft einer Violetta Valéry gerückten, ja sie mit russischer Maßlosigkeit übersteigerten Schönen zu Füßen. Sie handeln sogar öffentlich um ihren Preis, würden sie aber nie heiraten. Die große Ballszene, in der dieser Kuhhandel um die begehrte Kurtisane stattfindet, ist fast so etwas wie ein Zentrum der Oper. Sie eskaliert, weil die Tiermasken, die die Männer hier tragen, der Wahrheit ziemlich nahe kommen. Nur der Fürst, der Idiot, hat keine und kommt als er selbst. Die unerschütterliche menschliche Güte, mit der er diesen Menschen bei seiner Rückkehr aus dem Schweizer Kur-Exil begegnet, ist das Licht, in dem sie alle nur noch alt aussehen.
Stefan Mayers Bühne evoziert die sprichwörtliche russische Weite durch sparsame Ausstattungs-Andeutungen. Ein Zugabteil, ein paar Salonmöbel und auch ein paar russischer Birkenstämme. Oder ein Dutzend Kristallüster für den Ballsaal. Dazu kommen maßvoll ergänzende Videos, die in verwischter Gerhard Richter-Manier Kälte, Kirche und Landschaft imaginieren. Der Rest sind stimmige Kostüme (Falk Bauer), intensives Kammerspiel und große Stimmen!
Mannheim bietet ein Ensemle auf, über das man nur staunen kann! Ob nun Dmitry Golovnin als eindinglich bei sich selbst bleibender Fürst Myschkin in der Titelrolle oder sein Gegenspieler Rogoschin. Steven Scheschareg zeigt glaubwürdig, wie dieser rabiate Tatmensch bei aller Konkurrenz um die Liebe der von ihm dann am Ende ermordeten Nastassja Filippowna, Myschkin zugleich in tiefer Zuneigung verbunden bleibt. Es ist anrührend, wenn die beiden am Ende aneinandergeschmiegt gemeinsam vor der toten Geliebten trauern. Aber auch die Randfiguren, wie der schmierige Lebedjew (Lars Møller) oder der Bürokrat und Vater dreier heiratsfähiger Töchter Jepantschin (Alexander Vassieliev), dessen Frau (Elzbieta Ardam mit grandios orgelndem Alt) und deren Töchter werden liebevoll und auf höchstem vokalen Niveau gezeichnet. So entsteht an einem langen Opernabend ein fasznierendes Gesellschaftspanorama mit Menschen, die durch die radikale Humanität des Idioten selbst verändert werden.
Für die Bandbreite der musikalischen Mittel, die Weinberg dabei verwendet und für deren Zusammenhalt als großes Ganzes ist Thomas Sanderling genau der richtige Mann am Pult. Mit seiner schon biographisch bedingten Affinität zur russischen Moderne sorgt er für quasi authentisches musikalisches Idiom. Wobei auch das Orchester, bei dem der gerade vollendete Ring offenbar genau die richtige Einstimmung war, über sich hinaus wächst. Ob beim Auftakt mit den harte Paukenschlägen und dem Schicksals-Pathos der Bläser. Ob bei dem Zug ins schwermütig melancholische oder dann auch ins rhythmisch grundierte Parlando. Ob beim Durchschimmern eines parsifaleken Erbes oder dem Wiederschein von Schostakowitschs Vitalität – in Mannheim ist eine musikalische Entdeckungstat auf höchsten Niveau zu bestaunen. Und zu bejubeln.