Foto: Szene mit Theo Livesey, Katia Petrowick und Adèle Haenel © Katrin Ribbe, Ruhrtriennale 2023
Text:Michael Laages, am 17. August 2023
Die französische Choreografin Giséle Vienne erzählt in „Extra Life“ bei der Ruhrtriennale die nebulöse Geschichte dreier Geschwister, die sich in und um ein Auto Fragmente ihrer Familiengeschichte erzählen. Das gelingt kraft- wie effektvoll, bleibt uns aber fern.
Offenbar ist es der Festivalsommer der Autos auf der Bühne. Nach der Premiere bei Theater der Welt in Frankfurt ist etwa eine elegante Limousine unterwegs mit den „Cadela Forca“-Gastspielen der Gruppe um die Brasilianerin Carolina Bianchi. Dann hat ein weiteres, technisch extrem hochgerüstetes Gefährt eine Hauptrolle übernommen im ersten Teil von „Age of Content“, dem Spektakel von „(La)Horde“ zum Auftakt beim Sommertheater auf Kampnagel. Jetzt wird wieder ein Auto zum Kern des Theaters, magisch leuchtend und beleuchtet: „Extra Life“, die neue Produktion der französischen Choreografin Giséle Vienne, reist nach dem Start im Rahmen der Ruhrtriennale direkt weiter nach Hamburg. Die inhaltlich eher rätselhafte Geschichte um Schwestern und Bruder kann den Spielort auf vier Rädern in diesem Fall sogar ganz gut gebrauchen.
Geschwister stranden im Nirgendwo
Schwester 1 und Bruder sitzen in ihrer Kiste und scheinen nach einem aufregenden Fest im Nirgendwo gestrandet zu sein. Der Wagen hat noch genug Saft für das Leuchten der Scheinwerfer-Augen, während die Geschwister mit Blick in den Himmel vor sich hin delirieren. Gibt es Außerirdische? Und sind die Aliens vielleicht sogar schon unter ihnen und uns? Der Text, den Adéle Haenel, Katia Petrowick und Theo Livesey, das Ensemble-Trio, gemeinsam mit Regisseurin Vienne auf Französisch entworfen haben, bleibt abendfüllend bruchstückhaft. Die deutsch-englischen Übertitel weit oben im Bühnenraum erleichtern das Verständnis auch nicht automatisch. Je weiter vorn das Publikum sitzt im tiefen leeren Raum vom Salzlager der Essener Zeche Zollverein, desto mehr Nackenstarre könnte es bekommen, wenn es den Text oben mit Szenario und Spiel unten zusammenbringen will.
Fragment um Fragment wird eine Art Familiengeschichte kenntlich, in der es traumatische Momente gegeben haben muss. Zum einen ist zuweilen von einem „Frankie“ die Rede, der vermutlich irgendwann und irgendwie gestorben ist, womöglich sogar zu einer bestimmten Minute: um 5 Uhr 38. Immer wieder ist von der Beerdigung die Rede, bei der alle so schrecklich geweint haben. Und die Figuren, speziell Schwester 1, berichten davon, wie intensiv und lange sie weinen. Im Übrigen hockt ein augenscheinlich weiblicher Geist auf der Rückbank im Auto – wie ein Nachtmahr im Stummfilm.
Die Geschwister verlassen zuweilen auch ihre leicht klaustrophobische Blechkiste und aus dem nebligen Dunkel rechts erscheint plötzlich Schwester 2. Ob sie tot ist oder untot? Die Frage ist nicht wirklich zu beantworten. Jedenfalls ist sie präsent und lebendig genug, um ein Geschwister- und Beziehungsspiel zu dritt zu eröffnen. Immerhin sind beide Frauen gleich gekleidet und glänzen golden – während der Bruder durchgängig hippiehaft um Unterhemd bleibt und durchaus den Eindruck erweckt, er verstünde von dem Dreiecksspiel etwa so viel wie wir, das Publikum – also nicht wirklich viel.
Höllisches Laser-Licht-Design
Mit Schwester 2 mischt sich optische Struktur in die Szenenerie. Das Design von Yves Godin baut Räume aus sehr viel Laser-Licht, das fabelhaft mit dem allgegenwärtigen Nebel kommuniziert, der meist unter dem stummen Auto hervorquillt und mit leichten Windstößen extrem filigran auf dem Bühnenboden hin und her bewegt werden kann. Auf dieser Ebene ist „Extra Life“ Überwältigungstheater pur und sehr eindrucksvoll. Als das Trio sich für die Beschwörung des existentiellen Moments um 5 Uhr 38 zu dritt ins glühend rote Auto zwängt und der Sound von Adrien Michel mit der Musik von Caterina Barbieri so etwas wie Explosionen simuliert, innerlich wie äußerlich, gewinnt das Bild mit einem Netz aus ungezählten Laser-Strahlen ziemlich höllische Intensität.
Das wäre ein sehr gutes Finale, aber die Fabel wird länger und länger. Noch muss die Puppe von der Rückbank ins Freie geräumt werden – das Alptraumbild hockt nun wie mit Totenschädel in einem Gartenstuhl, Pop-Musik von früher plärrend, fällt der Figur ein Kinderspielzeug aus dem Schoß. Und die Geschwister eröffnen noch mal einen ausgedehnten „Pas de trois“. Da sie sich aber (wie fast den ganzen Abend über) in extrem verlangsamter Zeitlupe bewegen, nimmt die zwanghafte Intensität nun doch langsam ab. „Extra Life“ dauert tatsächlich etwa zwei pausenlose Stunden, gefühlt aber fast doppelt so lange.
Giséle Vienne war einst Sven-Eric Bechtolfs Favoritin, als der Schauspielchef der Salzburger Festspiele war. Das große Talent aus Frankreich inszenierte damals unter anderem in der Eissport-Arena der Stadt. Ihre Karriere seither ist glanzvoll, viel gibt es zu sehen bei ihr, vor allem viel Effekt aus Licht. Und das Trio aus Spielerinnen und Spieler gibt der Choreografie Kraft. Vermutlich gäbe es noch unendlich viel an intellektuellem Echoraum zu erkunden mit dieser Fabel – aber die Geschichte, die Menschen und Auto womöglich durchlebt haben in „Extra Life“, bleibt im Nebel, im Dunkel, kaum kenntlich und sehr weit weg.