Eine Familienaufstellung? Ensembleszene aus "L'Invisible" am Staatstheater Braunschweig

In roten Fäden verheddert

Aribert Reimann: L'Invisible

Theater:Staatstheater Braunschweig, Premiere:25.05.2019Autor(in) der Vorlage:Maurice MaeterlinckRegie:Tatjana GürbacaMusikalische Leitung:Srba Dinic

Ein Festival für zeitgenössische Musik leistet sich nicht jedes Haus.  Umso mehr ist die Initiative des Staatstheaters Braunschweig  zu erwähnen, wo jetzt die zweite Ausgabe des Festivals Notes mit der erst zweiten Neuinszenierung von Aribert Reimanns Oper „L’Invisible“ eröffnet wurde. Es folgen die Wiederaufnahmen von Cages „Europeras 1&2“ und seine „Song Books“, Christian Josts „Dichterliebe recomposed“ und Gregor Zölligs Tanzstück „Winterreise“ mit Musik von Hans Zender.

Reimanns Trilogie nach Stücken von Maurice Maeterlinck erzählt vom Eindringen des Todes in die Wirklichkeit. Für die Uraufführung an der Deutschen Oper Berlin schuf Vasily Barkhatov in dunklen Räumen eine suggestive Atmosphäre, in der besonders der Tod Tintagiles‘ im Krankenzimmer unter die Haut ging. War hier das Belauern und Beobachtet werden, die zu ahnende Präsenz des Todes, Thema der Inszenierung, herrscht in Braunschweig auf der offenen Bühne von Marc Weeger mit einem begehbaren Viereck als Zentrum undurchschaubares Gewusel. Regisseurin Tatjana Gürbaca will das Stück als Versuchsanordnung erzählen. Das wird eigentlich erst aus dem Programmheft verständlich, wonach die Countertenöre als Todesboten hier gleich Regisseuren das Geschehen arrangieren sollen. Nach Probebühne sieht das Ganze tatsächlich aus, auch verteilen die Counter anfangs Namenschilder und scheuchen vielfach die Figuren wieder zusammen. Auf den famosen Moritz Gildner als Knabe machen sie regelrecht Jagd. Aber als ordnende Hand sind sie nicht so recht zu erkennen.

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Warum die Figuren manchmal Schilder mit Regieanweisungen hochhalten müssen, der Junge mal ein Junge, mal eine Puppe ist und sich am Ende alle in rote Fäden verheddern, bleibt eher schleierhaft. Die Grenzen von innen und außen, Mitspielern und gerade nicht Beschäftigten werden nicht respektiert, was verwirrend ist. Das von Reimann so suggestiv beschworene Geheimnis des Todes, der unabweisbar und „invisible“ zu seinen Opfern dringt, wird in diesem Trubel konterkariert. Der Tod ist nun mal kein Experiment, sondern unwiderlegliches Verhängnis.

Ein Video von Yang Zhenzhong, auf dem Passanten den Satz „Ich werde sterben“ sagen müssen, rahmt die Oper. Aber damit hat die Versuchsanordnung von Gürbaca eigentlich auch nichts zu tun. Die meisten versuchen die Gewalt des Satzes lachend zu unterlaufen. Gerade das tut Reimanns Oper nun keinesfalls. Vielmehr stellt sie sich seiner Unausweichlichkeit. Trotzen kann dem Tod nur Erinnerung: Hin und wieder stellen die Figuren auf der Braunschweiger Bühne stumme Familienbilder. Momente liebevoller, wenn auch vergänglicher, aber im Herzen haftender  Gemeinschaft – nur hier schafft Gürbaca etwas Rührung.

Das Weitere muss die Musik allein besorgen. Und dafür steht ein bestens sortiertes Staatsorchester. Es ist hinter den Sängern auf der Bühne platziert, so dass die Klänge von weither kommen, aber das mit großer klanglicher Präsenz. Generalmusikdirektor Srba Dinic gewährt ihnen eine gewisse Süffigkeit. Das ist sehr angebracht und unterstützt den Todessog, den Reimann in seiner Trilogie von Stück zu Stück steigert. In „L’Intruse“ (Eindringling) wird einem nur von klopfenden Bögen und wogenden Streichern die sphärische Stimmung injiziert, in Glissandi der Boden unter den Füßen weggezogen. Tod der Mutter und Schrei des Neugeborenen treffen im Cluster zusammen, den zum ersten Mal Holzbläser steigern.

In „L’Intérieur“ muss die Botschaft vom Tod der Tochter überbracht werden, hier sorgen nun die Holzbläser allein für das mystische Kolorit. Während im „Tod des Tintagiles“ dann alles nach und nach zusammenkommt, auch Pauken, Gong, Hörner, ein dramatisches, immer wieder ausgebremstes Crescendo, das den Kampf Ygraines und ihrer Schwester um das Leben des kleinen Tintagiles spürbar macht, auch wie ihnen die harfenumspielten Counter als Todesboten den Knaben letztlich sanft entwinden. Das ist von verführerischer Klanglichkeit und doch stets so beunruhigend in der Farbgebung, zuweilen auch Dissonanz, dass es einem leise Schauer verursacht.
Exzellent auch das Gesangsensemble. Wenn Jelena Bankovic ihren frei flutenden Sopran mühelos bis in höchste Höhen schraubt, ihm auch bei Koloraturen und Tonsprüngen eine angenehm weiche Fülle gibt, ist das nicht nur feinste Gesangskunst, sondern  charakterisiert auch aufs schönste die fürsorgliche Schwester Ygraine, die für ihren vom Tod bedrohten kleinen Bruder eintritt. Und die Todesboten singen die drei Countertenöre Zvi Emanuel-Marial, Konstantin Derri und Rik Willebrords mit so herrlich harmonierenden, wie im Madrigal geführten Stimmen, dass man ein Gefühl dafür bekommt, dass  des Todes Gefährlichkeit weniger im Erschrecken als in der Hingabe, in der widerstandsbrechenden Erlösung liegt. Samuel Levines Tenor als Onkel wird zusehends geschmeidiger, Zenyi Hou und Dorothea Spilger ergänzen mit satten Mezzi. Dazu erden Vincenzo Neri mit kräftigem Bariton als Vater und Jisang Ryu mit substanzvollem Bass als Alter das Geschehen.
Viel Applaus und Bravos in Anwesenheit des Komponisten