Foto: "Xerxes" am Staatstheater Nürnberg. Andromahi Raptis (Atalanta) und Skater © Pedro Malinowski
Text:Dieter Stoll, am 25. November 2018
Auf der Halfpipe herrscht Hochbetrieb. Links grüßt die Flagge von Griechenland, rechts erkennt man die Farben der Türkei, mittendrin posiert verkehrswidrig ein Girlie mit Roller, artistische Radfahrer der durchweg jüngeren Generation sind auch schon in Sicht. Der persische König, der in der Nürnberger Aufführung von (genau genommen: nach) Georg Friedrich Händels Oper „Xerxes“ die Titelfigur gibt, scheint sich weder über die nicht weiter erläuterten Nationalitäten noch über sportliche Fahrgelegenheiten zu wundern. Wozu auch, er ist allenfalls der King vom Jugendfreizeit-Treff, und hier geht es nicht um die große höfische Intrige, sondern ums aufgeregte Teenie-Herzklopfen ohne Gewähr. Frauen und Männer sind Mädchen und Jungen, die wie Frauen und Männer fühlen. Aufgeheizt vom „Feuer der Liebe“, das noch vom Original herüberlodert, stürzen sie sich in behauptungsfreudig hochgewirbelten Beziehungsstress im öffentlichen Raum, wo mit der geballten Weisheit eines sportiven Endlos-Workshops nach Gegenwartsspuren in der Opern-Konvention gebohrt wird. GRIPS-Theater lupft Händel-Perücken, der Lehrer Doktor Specht hat grade keine Sprechstunde.
Das französische Kollektiv „Le Lab“ um Jean-Philippe Clarac und Olivier Deloeuil (Regie, Bühne, Kostüme) beruft sich auf die eigenen Wurzeln in der Politikwissenschaft, wenn es mit der Zeit der Handlung auch den Ort ändert. Blankes Entertainment wäre den ambitionierten Herren ausdrücklich zu wenig, was man durchaus als Distanzierung von den ehemaligen Münchner Händel-Pop-Spektakeln oder Stefan Herheims jüngerer, mindestens so amüsanter Umschlingung von Barock und Muppetshow bei „Xerxes“ in Düsseldorf und Berlin lesen darf. Der Nürnberger Gegenentwurf vom Skateboarding als überwölbendes Lebensgefühl mit beschränkter Haftung ist direkt der städtischen Szene der Stadt abgelauscht, was eine hochfahrende Videowand mit Rundreisen an der nahen Stadtmauer und Interview-Einspielungen aus dem Alltag der Rollbrett-Philosophen zwischen den Arien dokumentiert. Die Jungs, auf der Besetzungsliste unter „Skateboard/BMX“ zusammengefasst, sind doppelt präsent, rollern live durch die Lücken im Irrgarten der Opernhandlung und werden immer wieder als überlebensgroße Filmkonserve vorgeführt. „Riesenromatiker“ nennen sie sich da selbst in strahlender Naivität, das „Mädchen-Beeindrucken“ geben sie auf drängende Nachfrage gerne als Motivationsschub an und überhaupt: „Macht Spaß in der Gruppe, es ist immer was los“. Und: „Freiheit“ sei das passende Wort zum herrschenden Gefühl. An dieser Stelle rief ein ungeduldig werdender Premierenbesucher einfach mal seins dazwischen: „Musik“. Doch da wäre erst noch das Solo eines eigendynamischen Skatebretts zu bewältigen („Mein geliebtes Stück Holz, durch dich scheint das Glück“, liest man in den Übertiteln), das mit perfektem Animationskino erfreut. Wie von Geisterhand bewegt kullert es immer wieder durch Straßengräben, über Rolltreppen und Parkbänke bis zu den Marmorstufen im Opernhaus, wo man als Zuschauer allmählich zu zweifeln beginnt, ob der Markenname „Xerxes“ noch den König oder schon den Werbefeldzug für den Prototyp eines neuen Spielzeug-Modells repräsentiert. Händels Ironie („Wer gerade da ist, wird geliebt“), im Programmheft schlüssig analysiert, bewirkt in der Umsetzung des Regie-Konzepts wenig. Die pauschale Charakteristik der Jugend-Figuren kommt nicht weit über „Hänsel und Gretel“-Standards hinaus. Die Frivolität der Partnertausch-Bereitschaft, die sich wie im Wechselschritt von Witz und Drama ganz in der Nähe von Mozarts „Cosí fan tutte“ bewegt, ist eher ein knutschendes Zwischenspiel.
Dabei gibt Händels Musik, mit der die Nürnberger Oper bislang nur sehr zurückhaltend Umgang pflegte, reichlich Gelegenheit zu vokaler Hochseilartistik. Dirigent Wolfgang Katschner hat die Staatsphilharmonie erweitert, setzt eine historisch ausgestattete Continuo-Gruppe als gerne auch ratternden Schrittmacher ein und entwickelt damit seinen vitalen, ständig vorwärts drängenden Sound der Song-Spaliere. Latente Herausforderung für die Sänger, die mit viel kämpferischer Energie antreten und die Koloratur-Serpentinen oft brillant, durchweg achtbar bewältigen. Mezzosopranistin Almerija Delic in der Titelrolle steigert sich ständig aus gewisser Defensiv-Elegie bis zur finalen Furien-Arie, der Counter Zvi Emanuel-Marial (Arsamene) gewinnt nach und nach an Profil, die jungen Sopranistinnen Julia Grüter (Romilda) und Andromahi Raptis (Atlanta) klingen nach Versprechen für die Zukunft.
„Geht jetzt vergnügt durchs Leben“ wird am Ende dringlich empfohlen, wenn die Skater-Jugend ihre Verhältnisse einigermaßen geordnet hat, aber der Zuschauer immer noch nicht ganz sicher ist, wer denn da wen wirklich liebt – und warum bloß. Aber da hagelten auch schon Buh-Rufe auf das Regie-Team.