Foto: Die Parodie persiflieren: Emily Bradley (Mabel), Ronnie Miersch (Polizeisergeant Edward) und Ensemble © Pedro Malinowski
Text:Dieter Stoll, am 8. März 2020
Ein Schiff wird kommen, das ist schon mal klar. Zur ausführlich hoppelnden Trailer-Ouvertüre nahezu aller Folge-Melodien kreuzt es bereits in großen Kurven am Filmhorizont, der diesem Abend in aller Trockenheit die dauerhaft nötige Feuchtgebietskulisse sichert. Sobald es anlegt, werden abenteuerliche Gaunerfiguren wie für einen straff organisierten Faschingsball ausgespuckt. Opa Hoppenstedt ist auch dabei, er mümmelt in den Klebebart und trägt einen Papagei auf der Schulter. Im Mittelpunkt jedoch der Piratenkönig mit dem offenen Hemd, der fortan demonstrativ regelmäßig am üppigen Brusthaartoupet zupfen wird. Er geleitet seinen Lehrling zur Gesellenprüfung mit Eheanbahnung, aber der undankbare Raub-Azubi hat begründete Zweifel an seiner beruflichen Perspektive und der Schönheit der bisher einzigen Frau, die er je sah und nun ehelichen soll. Die reife Dame ist empört und singt „O nenn mich doch nicht Schlange / Ich lieb dich schon so lange“. Da blöken selbst die lebensgroß ins Bühnenbild montierten Schafe beunruhigt in die Partitur. Dass Errol Flynn oder gar Freddy Quinn bei diesen seltsamen Freibeutern in britischen Gewässern angeheuert hätten, darf bezweifelt werden, aber für einen kleinen Fluch der Karibik könnte es schon reichen, was da am Nürnberger Opernhaus zu erleben ist. Wenn „Die Piraten von Penzance“, die, einer innerbetrieblichen Sozialcharta folgend, niemals ehemalige Waisenkinder bedrohen dürfen, zum Zweck der gewerbsmäßigen Unheiltreiberei die Küste von Cornwell erobern, erklären sich dort alle spontan als elternlos. Auf diese Weise sind sie Waisen. Es folgt die bis dahin auf großen Bühnen viel zu selten erlebte Erörterung von korrekten Schreibweisen, die nicht mit Schreibwaisen zu verwechseln sind. Orthographie kann Leben retten.
Genug gescherzt, der Einschlag der Kalauer ist bei der Nürnberger Erstaufführung von Arthur Sullivans musikalischer Spaßbeschleunigung auch so dicht genug. Ohne Hämatom am guten Geschmack soll keiner diese Vorstellung verlassen. Am Opernhaus, das in weit zurückliegenden Jahren mal als „Operetten-Hochburg“ des deutschen Stadttheaters galt, war die britische Entertainment-Spielart, mag sie auch als Phantom geistreicher Albernheit zu den Monty Pythons geführt haben mag, tatsächlich nie ein Thema. Insofern konnte Regisseur Christian Brey, der als bundesweiter Handelsreisender für Jux und Tollerei auch im Schauspielhaus nebenan mit „The Legend of Georgia McBride“ Travestiespuren setzte, unbefangen zupacken. Den Ehrgeiz, aus den locker gebündelten Nonsens-Sketchen eine schlagkräftige Komödien-Groteske zu formen, hatte er nicht. Albernheit ist dem einstigen Partner von Harald Schmidt wohl doch der höchste Grad der Anarchie. Vielleicht irritierte ihn aber auch das Programmheft, das auf dem Titelblatt „komische Oper“ ankündigt und beim Umblättern zur Besetzungsliste auf der dritten Seite kommentarlos zum Begriff „komische Operette“ wechselt. Brey greift sich Gelegenheiten. Er lässt blümchenrosa Mädels mit aufgeladenem Kichern und kobaltblaue Angsthasen-Polizisten in immerwährend rhythmischer Spottgymnastik mit Hüftknick aufmarschieren (Chor und Statisterie überschlagen sich buchstäblich im Dienst der chronisch guten Laune), beim Abschweifen in Königstreueschwüre am Horizont ein seeungeheuerliches Brustbild der Queen Victoria erscheinen (Ausstatterin Anette Hachmann platziert alles so, dass im Kitsch immer die Ahnung von Geschmacklosigkeit blinkt) und seine Protagonisten von Choreographin Kati Farkas und Kampfchoreograf Ronny Miersch umstellen. Wenn der Piratenlehrling (John Pumphrey als Teenie-Pummelchen mit Tenor-Attitüde und Geburtstag am 29. Februar) erste Flirtversuche macht, kriegt er endlich auch die sehnsüchtig erwünschten Haare auf die Brust – er rupft sie einfach den grasenden Tieren aus. Würde der Gastregisseur den legendären Nürnberger Künstler Toni Burghart kennen, dürfte er an dieser Stelle eine von dessen Schafs-Karikaturen für die eigene Tatkraft zitieren: „Man muss nur wollen.“
Bemerkenswert in der Besetzung die jeweils andere Seite von profilierten Sängern. Hans Gröning, vorige Saison an gleicher Stelle eindrucksvoll als Wolfgang Rihms „Jakob Lenz“, poltert gekonnt die wackelige Autorität des Piratenkönigs und Hans Kittelmann, im laufenden Spielplan der Tony in der „West Side Story“, näselt bissig die Persiflage eines Generalmajors. Was man freilich, einschließlich der Schnellsprech-Gesänge im Ensemble-Rundlaufverfahren, aus Offenbach-Operetten besser zündend kennt.
Kapellmeister Guido Johannes Rumstadt führt das Orchester der Staatsphilharmonie hörbar sanft über ungewohntes Terrain. Er ist bedacht, den Musiker Arthur Sullivan (der mit dem „Marionettentheater“ seines Librettisten William Schwenck Gilbert trotz des zeitweiligen „Gilbert & Sullivan“-Markenzeichens nicht recht glücklich wurde) gegen die gröberen Humor-Attacken abzuschirmen. Manchmal gelingt das für mehrere Minuten, die Wurzeln des ursprünglichen Kirchenmusikers mit der latenten Sehnsucht nach Rückkehr zur Seriosität lassen momentweise Blüten aufspringen. Sie welken allzu schnell. Die Grundsatzfrage dieser Aufführung, die bei der Premiere am Ende bejubelt wurde, nachdem in der Pause erstaunlich viele Besucher geflüchtet waren, bleibt bestehen: Was bringt es an Lustgewinn, wenn man eine Parodie persifliert? Der weiße Schimmel wiehert, Queen Victoria schaut majestätisch. Die britische Operette, so gesehen, ist vorerst vom Verdacht verkannter Genialität befreit.