Foto: Szene aus „Antigone Neuropa“ © Marlies Kross
Text:Ute Grundmann, am 27. März 2021
„Warum immer wir?“ „Uns trifft es wieder am härtesten.“ Solche Jammertöne meint man von Alu-Quer-Hüten zu kennen, doch hier ist es ein Chor der Thebaner, die so sich und ihr Los beklagen.
Kreon regiert mit harter Hand und „allgemeinen Befehlen“; alle folgen, nur eine nicht: Antigone. Sie ist denn auch die Namensgeberin eines ungewöhnlichen Crossovers mit vielen Ingredienzien, ersonnen von Regisseur Filip Markiewicz und Schauspieldirektorin Ruth Heynen. „Antigone Neuropa“ wurde nun zum ersten Streaming des Staatstheaters Cottbus.
Die Kamera fliegt über und auf das Dach des „Hangars 5“, dann hinein in die Flugzeughalle, Nebenspielstätte des Staatstheaters. Hier sirrt und wimmert die E-Gitarre (der Regisseur selbst greift in die Saiten), stehen Menschen an Mikros, schreitet ein Tänzer (Jeremiah Olusola) kunstvoll umher. Doch zuerst zieht der Name der thebanischen (?) Prinzessin, die trotz der Aussicht auf Bestrafung ihren toten Bruder beerdigen will, die Aufmerksamkeit auf sich: „Gone“ steht links, „Anti“ rechts, darüber jeweils das schmerzende Bild einer Frau, die einen toten Körper trägt.
Könnte eine Zeichnung von Käthe Kollwitz sein, stammt aber vom allgegenwärtigen Regisseur. Sind damit thematische Pflöcke eingeschlagen? „Gone“, also Vergangenheit? „Anti“, also gegen? Dazu das der Antigone beigegebene „Neuropa“ – neues Europa lässt das denken, aber auch Neurose. Die Assoziationen sind so vielfältig wie diese Koproduktion mit dem Lausitz Festival vielschichtig ist. Manchmal auch verworren.
Denn vordergründig wird Antigones Geschichte erzählt, in Deutsch (dramatisch) und Englisch (dynamisch), später kommt noch Französisch dazu. Und Sophie Bock als Schwester, die ihren Bruder wenigstens ehren will, ist kühl, beherrscht, beherrschend, da mag Kreon (Gunnar Golkowski) noch so drohen. „Sir“ wird er als Law-and-Order-Mann erst geheißen, später „Du bist nichts“ verhöhnt.
Doch trotz all der Akteure gehört die Hauptrolle den Klängen und Geräuschen. Nicht umsonst steht N. U. Unruh von den „Einstürzenden Neubauten“ an den Drums und Fabian Schülers Kamera schaut immer wieder gerne zu, wie er mit Ketten und Bohrmaschinen auf Kanistern furchteinflößende Töne erzeugt. Dazu Lars Neugebauer („Black Friday“) am Schlagzeug und, wieder, der Regisseur mit Eigenkompositionen an Gitarre und Syntheziser. Doch nicht nur die Klänge werden immer bedrohlicher, auch der Ödipus-Mythos, der hier herangezogen wird. Schwester und Bruder werden zu „Verräter und Feigling“, eine „Bürgergemeinschaft“ sammelt sich, auf dem Rückwandvideo wechseln Cottbuser Ansichten mit gewaltsamem Tanz. Die verschiedenen Ebenen (Bühne, Treppen, Empore) und vielen Textstränge versucht die Kamera genauso vielfältig wiederzugeben, zoomt, sucht aus, geht (zu) nah ran und wäre besser häufiger in der Totale geblieben.
Als die treibenden Rhythmen dann das langsame Spiel und ebensolche Bewegungen in Stille und Stillstand geleitet haben, biegt „Antigone Neuropa“ ab – in die falsche Richtung. Von Macht und geheimen Lebensverbindungen ist nun Rede und Szene, wird Respekt vor der Ordnung von Natur, Generation, sexueller Differenz gefordert, ebenso Eingriffe in soziale Koordinaten. Ob die ausführliche Schilderung, wie der Mensch zum „Homo sacer“ wird, zum straflos tötbaren Objekt, eine Warnung ist, bleibt offen. Kreon und Antigone vertreten das „Herrschaftsprinzip“, wogegen der Off-Chor ein Aufständchen macht. Wenn dann noch mit Hitlerschem Zungenschlag ein „ungerechter Führer“ (herbei?)zitiert und der Zeigefinger-Appell „Beitreten!“ gebrüllt wird, ist die Performance zum unsäglichen Wahlspot geworden. Da helfen weder eine fehlfarbene, orangene Europafahne noch der Verweis auf „Denkrichtungen in fragilen Zeiten“. So bleibt nach 67 Minuten kaum Lust auf Fragen, nur auf eine: Soll das ein Abbild Deutschlands und Europas im Jahr 1990 sein?
Der Stream ist via Youtube abrufbar.