Hier riecht es nach Dauerkrise
Zeichen der Entgeheimnissung dieser Welt ist auch, dass Siegfried nicht das gebrochene Schwert Nothung zusammen schmiedet, sondern aus dessen Material einen im Lauf des Abends reichlich zum Einsatz kommenden Revolver gießt. Der zum Tatgehilfen dressierte Held hat, wenn er seinen Verstand vom unsympathischen und sein eigenes Zwecksüppchen kochenden Stiefvater Mime unabhängig macht, nur wenige Bezugspunkte. Überall riecht es nach Prekariat und gesamtgesellschaftlicher Dauerkrise. Auch Julia Kaschlinskis Kostüme entmystifizieren Wagners Weltdrama also gründlich. Müller-Elmau hat Wagners Text genau gelesen. Er kommt deshalb zu schlichten und sinngemäß passenden Bildern, sehr nachdenklich und ohne Illusionsappeal. Insofern ist der von Wagner als „heroisches Lustspiel“ geplante und dann doch in dessen negative Weltsicht einmündende „Siegfried“ in Coburg von ausnüchternder Ehrlichkeit.
Claudia Bauer vom Landestheater Niederbayern übernahm die Stimme des Waldvogels für die dazu spielende Francesca Paratore. Patrick Cook brachte für den kräftigen Rowdy Siegfried trotz krankheitsbedingter Angeschlagenheit die Statur und auch die im Leisen vollauf tragfähige Kondition mit. Für den langen Monolog und die Schlussszene spielte sich dann der als tenoraler Notanker unter den Beobachtern der Szene agierende Zoltán Nyári nach vorn. Nyári setzte mit stimmlicher Ausgeruhtheit, Konzentration und der die gesamte Produktion auszeichnenden Sorgfalt der Diktion ein. Und er zeigte, dass Wagners nur die Frauen und sonst nichts fürchtender Hitzkopf mehr vom männlichen Begehren und erotischen Erobern weiß, als im Textbuch steht. Dieser Veredelungskick befeuerte sowohl die energische wie leuchtkräftige Brünnhilde von Åsa Jäger wie den Generalmusikdirektor Daniel Carter, der in der Erweckungsszene das Philharmonische Orchester zum größeren Schwelgen treibt.
Vom Reiz der sängerischen Deutlichkeit
Letzteres entwickelt im geringen Raumvolumen eine beeindruckend individuelle Klangkontur, in der weder Charisma zum Selbstzweck noch Wagners „unendliche Melodie“ durch einen extrovertierten Strom undeutlich vergröbert wird. Der Reiz des Coburger „Siegfried“ liegt in der sängerischen Deutlichkeit. Das gerät in die Risikozone nüchterner Trockenheit, macht aber Wagners in „Siegfried” an Drive gewinnenden Gleitflug Richtung Apokalypse auch atmosphärisch stark.
Simeon Esper als Mime hat die rhetorische Kampfbereitschaft, die immer wieder aus dem Minenfeld von Siegfrieds und Mimes Zweisamkeit züngelt, mitreißend in der Stimme. Zu ihm gesellt sich in der Wissenswette mit Michael Lion ein Wotan-Wanderer von weniger pathetischer als gleichgültiger Resignation. Der Lack ab und die Lust futsch sind bei Evelyn Krahe als ohne Tiefen-Betörung auskommende Erda und dem hinter seinem Anzug anämisch undämonischen Alberich von Martin Trepl. „Siegfried“ wird in Coburg das technische Frühlingserwachen eines Jungen im Überdruck durch vergreisende Altvordere. Darüber hat man schon viel gelesen und es doch nur selten mit so sachgemäßer Prägnanz erlebt. Der Jubel nach den trügerisch aufjauchzenden Schlussakkorden evozierte Beifallsorkane.