Foto: Szene aus Keith Warners Inszenierung „André Chénier“ auf der Bregenzer Seebühne © Bregenzer Festspiele / Karl Forster
Text:Wolf-Dieter Peter, am 21. Juli 2011
„In dieser ganzen Misere – was tun die Eliten?“ fragt der kritisch denkende und empfindende Dichter André Chénier die ihn umgebende Aristokratie. Doch die tanzt weiter, bis der durch das Lesen aufklärerischer Bücher revolutionär gesinnte Kammerdiener Gérard hungernde Bauern hereinführt: „Seine Hoheit – das Elend!“ – Die Französische Revolution ist da. Die junge Comtesse Madeleine verliebt sich in Chénier und wird vom eifersüchtigen Gérard verfolgt. Alle geraten in den Terror der blutrünstigen Revolutionstribunale. Ihre Liebe enthusiastisch feiernd, besteigen Chénier und Madeleine das Schafott. Umberto Giordano hat auf das glänzende Libretto Luigi Illicas beste italienische Theatermusik geschrieben. Er zitiert die Marseillaise und Revolutionsmusiken, gestaltet aber sowohl poetisch-lyrische Versunkenheit um das Liebespaar wie abgründige Machtreflexionen des zum Revolutionsführer aufgestiegenen Gérard.
Ein im Opernbetrieb unterschätztes Werk, das nun ausgerechnet in der Bregenzer Opern-Air-Aufführung überzeugte: Ulf Schirmer ist der einzige Dirigent, der sich mit Akustiker Wolfgang Fritz wochenlang zusammensetzt, um das ausgeklügelte Tonsystem mit seinen 500 Lautsprechern musikdramatisch optimal zu nutzen. Das war beeindruckend zu hören – und Bariton Scott Hendricks als Gérard, Tenor Héctor Sandoval als Chénier und Norma Fantini als Madeleine konnten von schönem Piano bis in wilde Ausbrüche glänzen.
Doch die Bregenzer Seebühne bietet ja immer auch spektakuläre Inszenierungen. Regisseur Keith Warner und Bühnenbildner David Fielding haben den ermordeten Marat aus Jacques-Louis Davids berühmtem Bild statt in die Badewanne nun in den Bodensee gelegt. Zwei Körperflächen Marats werden erstmals für die Projektion des deutschen Textes genutzt. Auf Marats linker Schulter dienen ein offenes Buch mit Chéniers Gedichten, rechts ein historischer Spiegel und in seiner Hand ein großes Schriftstück als Spielflächen. Marats Körper ist von vielfältigen Treppen überzogen, die Massenauftritte erlauben, aber das Geschehen auch ein wenig zu sehr zergliedern. Aus Sorge um das wenig bekannte Werk hat Regisseur Warner Textaussagen zusätzlich bebildert oder durch ergänzende Figuren ausspielen lassen, alle üppig, aber dramaturgisch hilfreich kostümiert (Constance Hoffmann) bis hin zu einem Sensenmann, dessen Todesdrohung die Szenen durchzieht. Prompt werden Stuntmen spektakulär zu Tode gestürzt, gehängt oder ertränkt.
Einiges wirkt überdeutlich oder verdoppelt. Doch für den mitdenkenden Zuschauer gibt es da den Satz, dass „die Revolution ihre Kinder frisst“ sowie Szenen, in denen die Alten ihre Enkel als letztes Aufgebot in den Krieg schicken und Blutrichter wüten… Ja, es findet sich Brandaktuelles wie die Anklage, dass da ein Land seine Dichter mordet und die sehnsuchtsvolle Utopie, „die Not der Geschlagenen und Unterdrückten zu lindern“. Plötzlich wurde Giordanos gut einhundert Jahre alte Oper auch zum mahnenden Beispiel, wohin allzu große soziale Ungleichheit führen kann.