Foto: Chor aus aufständischen Matrosen unter Führung des Heizers Gabriel (Michael Müller-Kasztelan) in Konfrontation mit den Kaisertreuen unter Flotillenkapitän Arno von Stahl (Tomohiro Takada). © Olaf Struck
Text:Christian Strehk, am 7. November 2018
Theater tun durchaus gut daran, die regionale Geschichtsidentität ihrer Stadt in Produktionen zu spiegeln. Das „Wir“-Gefühl zieht Zuschauer an. So wie in Lübeck jahrelang Erfolge damit gefeiert wurden, das Schaffen von Thomas Mann auf der Bühne sichtbar zu machen, setzt das Theater Kiel derzeit auf den Matrosenaufstand. Der hatte in der Fördestadt vor genau 100 Jahren den Kaiser zu Fall gebracht und den entscheidenden revolutionären Impuls zur Anbahnung der Weimarer Republik gegeben. Die Besatzungen der Großkampfschiffe wollten sich am Ende des Ersten Weltkriegs partout nicht zur „Ehrenrettung der Marine“ in völlig aussichtsloser Seeschlacht opfern lassen.
Nach der doppelten Wiederauflage des zehn Jahre jungen Theaterstücks „Neunzehnachtzehn“ von Grünen-Chef Robert Habeck und Andrea Paluch durch das Schauspiel-Ensemble sowie plattdeutsch an der Niederdeutschen Bühne Kiel hat das Opernhaus jetzt auch seinen Erinnerungsbeitrag. Der Kompositionsauftrag ging, auf der durch Kontakte von Operndirektor Reinhard Linden zunehmend italienisch geprägten Bühne, etwas überraschend an den Mailänder „Neoromantiker“ Marco Tutino. Doch der gibt sich angesichts von norddeutschem November-Nebel und salzig-rußiger Seefahrer-und Kesselheizer-Thematik zumindest eine Spur knorriger als erwartet. Wie eine riesige Kolbendampfmaschine von der Howaldtswerft stampft seine Musik gegen den plötzlich hohen Wellengang der Geschichte an. In den hohen Registern des Orchesters schäumt und peitscht die Gischt, tief unten dröhnt und bebt der Stahlkoloss des Großkampfschiffes Helgoland.
Der zum Ende der Saison scheidende Generalmusikdirektor Georg Fritzsch und die Philharmoniker gehen volle Kraft voraus, um das neue Operndrama zum wachsenden Kieler Stolz auf den epochemachenden Matrosenaufstand von 1918 emotionale Kraft zu verleihen. Mit riesigem Erfolg: In der Uraufführung von „Falscher Verrat“ folgt einer Prise Buh der ganz große Bravo-Sturm.
Der Norditaliener Tutino findet angesichts raubeiniger Matrosenschicksale und überreichlich vielen Hafen-Huren zu einer herben, nah an Pulsschlag und Nervengewitter entzündeten Marine-Musiksprache, die eigentlich nur in den etwas weinerlichen Arienabschnitten à la Puccini an Eindringlichkeit verliert. Allemal geraten die Protagonisten und der zupackende Chor (Einstudierung: Lam Tran Dinh) so ins Aussingen, dass an großem Opernformat kein Zweifel aufkommt. Da schwingen aber auch solidarisch Hanns Eisler, Paul Hindemith und die Russen des 20. Jahrhunderts mit, steckt (Selbst-)Ironie drin, poltern am Schluss die kaiserliche Siegerkranz- und proletarische Agitprop-Parolen heftig durcheinander: Völker hört die Signale – mal aus Kiel!
Der Komponist konnte seine angstbesetzt düsteren Wogen ganz aus dem sehr geschickt gebastelten Libretto von Luca Rossi und Hamelns Theaterchef Wolfgang Haendeler entwickeln. In operntypisch gestelzter Künstlichkeit der deutschen Sprache schichten sich hier Verrätereien an vielen, an einzelnen und vor allem an den eigenen Idealen als Impulsgeber der Novemberrevolution.
Der Regisseur Daniel Karasek folgt den Vorgaben penibel genau und hat mit seinem Team (Bühne: Lars Peter; Kostüme: Claudia Spielmann; Licht: George Tellos) dazu an Deck, in Kajüten und in Kieler Kemenaten stimmungsvoll Atmosphäre geschaffen. Nur in angedeuteten Schauplätzen und wie in einem herbstlich vernebelten Dokumentarfilm werden die handelnden Typen, meist mit projiziertem Seegang im Rücken, sehr plastisch charakterisiert.
Der junge Heizer Gabriel Jensen, den Michael Müller-Kasztelan mit oft inbrünstig hochfliegendem Tenor als linken Revoluzzer und verletzten Liebenden rüstet, fordert seinen Vorgesetzten Arno von Stahl aufs Äußerste heraus: Tomohiro Takada zeigt mit kraftvoll strömendem Bariton anrührend, wie dem Kapitän „Seiner Majestät Schiff Helgoland“ aus dem Ruder läuft und er zwischen Zweifel und Treue zu humanistischen Idealen, zur Ehefrau, zu seiner Geliebten und zum Vaterland zerrieben wird.
Trotz anrüchiger Profession als Prostituierte geht von Lola ein ehrlich liebesfähiges Leuchten aus, das zwar die beiden Männer verbrennt wie die Motten das Licht, aber ihre entsprechend verblendeten Entscheidungen glaubhaft werden lässt. Agnieszka Hauzer zündet dazu ihren jugendlich-dramatischen Sopran. Reichlich dicke kann man allerdings den symbolistisch überhöhten Schluss finden, wenn sie ihre Liebestoten an die Hand nimmt und als unsterbliche Helden in die (vorerst republikanische) Ruhmeshalle einer letztlich unaufhaltsam weiterlaufenden Historie führt …
Neben Admiral Kropp (Jörg Sabrowski) wird noch dessen Tochter Elsa zur interessanten Figur: Tatia Jibladze singschauspielert in ihr das Paradox einer Stummfilm-Diva mit viel Fricka-Stimme und Sprachausdruck herbei, die den fatalen Standesdünkel in der elitären Marineleitung greifbar macht. So hat jetzt auch das Opernhaus am Kleinen Kiel eine wirkungsvoll konfektionierte Produktion mit heimatlichem Geschichtsbezug.