Foto: Mitglieder des Opern- und des Extrachors, des Staatsorchesters Kassel mit Dirigent Kiril Stankow sowie Statisterie © Sebastian Hannak
Text:Martina Jacobi, am 14. Oktober 2023
Intendant Florian Lutz eröffnet mit Georges Bizets „Carmen“ die neue Raumbühne ANTIPOLIS am Staatstheater Kassel. Darin stellt er Arbeitermilieus gegen eine kapitalistische Führungsriege im Heute – und setzt das Publikum in einen tollen Bühnen-Abenteuerpark.
Bitte lächeln fürs Firmenimage! Schnell ein Happy-Selfie mit den Arbeiterinnen der Zigarettenfabrik, im Vordergrund steht ein massiver Bürokratentisch für die Chefetage in öden Anzügen, die sich dekadent Bauch und Taschen vollschlägt. Auf mehreren Bildschirmen laufen dabei Werbefilme für die „Bohémiens blondes”, die die Arbeiterinnen der Zigarettenfabrik herstellen.
Intendant Florian Lutz, der voriges Jahr für seine „Wozzeck”-Inszenierung in der Kategorie „Inszenierung Musiktheater” mit dem Deutschen Theaterpreis DER FAUST ausgezeichnet wurde, legt den Fokus auf Carmen als Repräsentantin eines niederen Arbeiter:innenmilieus, eine Bohemienne als Gegenpol zur Bourgeoisie, deren Welt losgelöst von allen Georges Bizets Oper zugeschriebenen, rassistischen und exotischen Klischees steht.
Mission Verfassungsschutz
In der Raumbühne ANTIPOLIS von Hausszenograf Sebastian Hannak wird ein Teil des Publikums als inoffizielle Mitarbeiter:innen des Verfassungsdienstes in die Zigarettenfabrik mit blauem Kittel und Haarnetz auf die Bühne zum Zigaretten stopfen eingeschleust. Per SMS kommen Anweisungen zum Verhalten: Die Fabrik infiltrieren, verfassungsfeindliches Flugblatt sichten. Die Mission: terroristische Aktivitäten aufdecken. Ein zweiköpfiges Filmteam bringt die Haupthandlung live auf mehrere Bildschirme, die so angebracht sind, dass alle Zuschauer:innen auch in den Rängen der Raumbühne ein vollumfängliches Erlebnis haben dürfen.
von links: Marie-Dominique Ryckmanns (Frasquita), Cozmin Sime (Dancairo), Johannes Strauß ((Remendado), Ilseyar Khayrullova (Carmen), Daniela Vega (Mercédes) © Katrin Ribbe
Die von Ilseyar Khayrullova charismatisch dargestellte Carmen ist vor allem im ersten und zweiten Akt nahbar: Sie befreit sich aus dem vereinheitlichenden Arbeiterinnendasein, ihr rotes Kleid macht sie zur kommunistischen Rädelsführerin. Später bleibt sie in dieser Idolstilisierung, wird das Gesicht der Revolution. Der gewinnend zahnpastagrinsende Escamillo (Filippo Bettoschi) währenddessen ist recht flach charakterisiert, dafür ein heldenhaft gefeierter Fussballstar, gesponsert von „Bohémiens blondes”. Margrethe Fredheim als einfühlsame, drängende Micaëla ist wie Don José bei der Polizei und will ihn in das bürgerliche Leben zurückholen. Der einzige Ensemblegast des Abends Aldo di Toro singt diesen gefühlvoll und glaubhaft in seinem Begehren nach Carmen hin- und hergerissen. Das Staatsorchester Kassel unter Kiril Stankows Leitung bleibt bei bunten Treiben nicht nur stabil in den Tempi, sondern legt ein wunderbares Klangerlebnis hin.
Umfassendes Bühnenuniversum
Politik und Medien kriegen ihr Fett weg. Schon allein die Einschleusung der echten Pressevertreter:innen als Verfassungsdienstler:innen, deren Operation am Ende auffliegt, läßt sie unglaubwürdig dastehen. Nach Einblendungen von Straßenkrawallen und „Breaking News” mit reißerischen Überschriften wie „Wer ist sexy Terroristin?” tagt ein Untersuchungsausschuss an einem langen Konferenztisch, einer Art EU-Parlament. Die Hauptverdächtigen, Carmen, Don José und Escamillo, sind nicht aufgetaucht, die Presse hat nichts gehört und nichts gesehen. Gleich darauf erobern die bewaffneten Revolutionäre den Ausschuss wie im Sturm auf das Kapitol. Der Kinderchor kämpft ebenso erfolgreich gegen die Obrigkeit und bekommt durch Videoprojektionen mit von den Kinder eingesprochenen, antikapitalistischen Botschaften eine gewichtige Stimme. Was bleibt ihnen noch, wenn „friedliche und theoretische Mittel“ nichts mehr nützen?
Florian Lutz’ Inszenierung schafft ein umfassendes Bühnenuniversum mit eingängigen, überdeutlichen Bildern. Trotz der Beteiligten- und Themendichte fehlt es der Inszenierung nicht an Stringenz – und Lutz spart sich den erhobenen Zeigefinger. Am Ende zieht Carmen als Anführerin der Revolutionäre ab, während Escamillo sich eine Maske nimmt und Teil ihrer Anhängerschaft wird. Don José bleibt einsam auf der Bühne zurück. Er hat Carmen nicht ermordet, und doch die Vorstellung von ihr als Frau, wie er sie begehrt, beerdigt.