Foto: Erotische Verrenkungen im Ejakulationskanal: Marina Prudenskaya als Venus, Peter Seiffert in der Titelpartie und Sasha Waltz’ Tanzensemble im neuen Berliner "Tannhäuser". © Bernd Uhlig
Text:Detlef Brandenburg, am 10. April 2014
Natürlich kann man gegen das „Tannhäuser“-Dirigat, mit dem Daniel Barenboim die diesjährigen Festtage der Berliner Staatsoper Unter den Linden eröffnete, Einwände haben. Denn mit der rigoros klaren Ausformung der Klangkonturen, der außerordentlich markanten Akzentuierung sowohl im Vokalen wie im Instrumentalen und vor allem in der teils extremen Auslegung der Anweisungen bezüglich der Dynamik und der Tempi setzte der Generalmusikdirektor der Lindenoper romantische Gewohnheiten der „Tannhäuser“-Interpretation außer Kraft, die manchem Hörer lieb und teuer sind. So lieb, dass sich im Schlussjubel nach der auf der Bühne wie auch im Auditorium prominent besetzten Premiere ein einsamer Buhrufer kaum darüber beruhigen konnte. Zweifellos trug auch die unsentimental trockene und sehr direkte Akustik des Schillertheaters an der Bismarckstraße, wo die Staatsoper sanierungsbedingt ja noch immer spielen muss, dazu bei, dass das Profil von Barenboims Dirigat besonders kompromisslos zur Geltung kam.
Doch trotz solcher Irritationen war dieses Dirigat sensationell. Denn auf der innermusikalischen Ebene bildeten die Extreme keine isolierten Effekte, so wie das bei Christian Thielemanns letztem Bayreuther „Tannhäuser“ oft der Fall gewesen war, sondern sie waren strukturell wie dramatisch motiviert durch sehr plastisch ausformulierte Entwicklungsprozesse. Und auf der Bedeutungsebene machte diese Musikdramaturgie unmissverständlich klar, dass „Tannhäuser“ eine Revolutionsoper ist, die gegen die sexuellen und ästhetischen Konventionen der saturierten bürgerlich-monarchistischen Tugendgesellschaft heftig aufbegehrt im Namen einer Unmittelbarkeit von Gefühl und Ausdruck, die seinerzeit nicht Ihresgleichen hatte. Wie Barenboim solche Gefühlsmomente – von Wolframs tiefinnigem Lied an den Abendstern bis zu Tannhäusers hochemotionaler Romerzählung – ausmusizierte, war hinreißend. Und wie er in den großen Ensembles, exemplarisch im Finale des 2. Aktes, die Fliehkräfte des von Wagner aufgespannten gesellschaftlich-psychologischen Kontinuums so hochtrieb, dass es diese Gesellschaft und ihre Individuen schier zu zerreißen drohte, das war emotional packend und konzeptionell durchaus erhellend.
Was hätte das für ein Abend werden können, wenn die Inszenierung von Sasha Waltz Barenboims Interpretationsansatz auf Augenhöhe angenommen hätte. Doch leider scheitert Berlins Starchoreographin auf ganzer Linie an Wagners heiklem Werk. Ihre parallel zu den Sängern agierenden Tänzer verdoppeln das szenische Geschehen so uninspiriert, dass sich daraus nie eine eigene Ausdrucks- und Deutungsdimension entfaltet und man sich gelegentlich fragt, was hier absichtliche Karikatur und was pure Unbeholfenheit ist. Nur eines schwant einem nach dem Bacchanal ziemlich nachhaltig: dass es vermutlich die Ödnis der hier gepflegten, sich in immer neuen Wiederholungen erschöpfenden erotischen Gymnastik ist, die Tannhäuser aus dem Venusberg vertreibt. Da verknäulen sich die halbnackten Akteure in der Enge eines Windkanal-artigen Ejakulationstrichters inmitten der weißen Wand, den Waltz zusammen mit Pia Maier Schriever als Bühnenbild des Venusbergs ersonnen hatte, in allerlei Verrenkungen. Und da keinerlei dramaturgischer Bezug zum Verlauf der Musik spürbar ist, langweilt man sich schon nach zehn Minuten. Wie soll der arme Tannhäuser das über Jahre aushalten?
Dabei ist das noch der bildlich stärkste Teil dieser Inszenierung, die ein über weite Strecken ernüchternd konventionelles Steh- und Gestikuliertheater der Sänger mit ausdrucksarm verzappelten Aktionen der Tänzer kontrapunktiert, und die sich mit dem riesigen Raum-Dreieck aus Bambusreihen im zweiten und dem illuminierten Nebel auf leerer Bühne (Licht: David Finn) im dritten Akt vollends im geschmäcklerisch Hübschen verliert. Dass Bernd Skodzig die Wartburg-Sänger in vornehme Couture der vorletzten Jahrhundertwende kleidet und sie damit als graue Biederbürger denunziert, dass der Aufmarsch des höfischen Wartburg-Establishments mit neckisch überzeichneten Schickeria-Gesten parodiert wird, bestätigt lediglich die Venus-Worte vom „blöden, trüben Wahn“ der „grauen“ Menschen. Und das Gebetsgestikulieren des pilgernden Chores ist in seiner redundanten Bemühtheit fast schon peinlich. Dabei verdanken wir Sasha Waltz ja wirklich Referenzinszenierungen des choreographischen Musiktheaters, von Purcells „Dido und Aeneas“ (2004) bis zu Rihms „Jagden und Formen“ (2008). Doch an Wagners gesamtkunstwerkhaft geschlossener Musikdramaturgie gleitet die Kunst der Choreographin ergebnislos ab.
Musikalisch jedoch wird die Aufführung im Gedächtnis bleiben – und das, obwohl das Sängerensemble nicht durchweg erstklassig ist, von Barenboim aber zu einem faszinierenden Ganzen geformt wird. Lange nicht mehr habe ich die (von Martin Wright einstudierten) Tannhäuser-Chöre so dramatisch profiliert gehört. Und Peter Seiffert in der Titelpartie – sicher: Seine Stimme klingt nicht mehr jugendfrisch, sie sitzt ziemlich fest, hat raue Trübungen. Aber noch immer ist Seiffert ein kluger, erfahrener Gestalter der Partie. Und die nie nachlassende Intensität, mit der er auch den Ensembles wichtige Impulse und der Rom-Erzählung schließlich ein loderndes Leidenspathos gibt, ist außerordentlich. In Marina Prudenskaya als Venus mit gleißendem Stimmstrahl hat er eine ähnlich präsente Partnerin, allerdings liefert sie mit ihrer vollkommen sinn- und interpunktionsfeien Artikulation ein schlagendes Argument für die auch im Schillertheater praktizierte deutsche Übertitelung deutschsprachiger Opern.
Die Elisabeth der dänischen Sopranistin Ann Petersen ist ihrer Liebeskonkurrentin insoweit ebenbürtig, als auch sie dramatisch sehr präsent ist. Aber in der Klarheit des Timbres und vor allem in der lyrischen Legatokultur, die diese Partie zwingend verlangt, hat ihr oft scheppernd greller, im Piano spröder Sopran erhebliche Defizite. Dagegen gibt Peter Mattei als Wolfram ein beeindruckendes Beispiel, wie man auch mit einer vielleicht nicht ganz idealen Stimme eine wirklich hinreißende Interpretation der Partie erreicht. Matteis Bariton ist für den von Elisabeth verschmähten und daran empfindsam, aber dezent leidenden Wolfram wohl eine Spur zu groß und zu hart. Die Innigkeit und nuancierte Einfühlsamkeit aber, mit der er im dritten Akt die Stimmung des nächtlichen Wartburg-Tals beschwört und den Abendstern besingt, ist einer der bewegendsten Momente des ganzen Abends. Und – wenig erstaunlich, aber immer wieder bewundernswert: Natürlich war René Pape ein wunderbar seriöser Landgraf. Aufhorchen ließ Peter Sonn als Walther mit einem schönen lyrischen, dabei aber durchaus virilen Tenor.
Es war ein musikalisch großer, szenisch enttäuschender Abend mit einer sinnreichen historischen Referenz. Als Wagner seinen „Tannhäuser“ für die skandalumwitterte Aufführung an der Pariser Grand Opéra 1861 umarbeitete, schuf er zwar das große Bacchanal zu Beginn des ersten Aktes, das jetzt auch in Berlin gespielt wird. Aber er verweigerte strikt das in Paris eigentlich obligatorische Ballett im zweiten Akt. Sasha Waltz hat den bis auf weiteres gültigen Beweis geliefert, wie Recht der Meister mit seiner notorischen Aversion gegen das Ballett hatte.