Foto: Kapitalismuskritik mit Händel: „Brockes-Passion“ an der Oper Halle © Federico Pedrotti
Text:Roland H. Dippel, am 4. Oktober 2021
Es beginnt mit der Erfindung der Bilder-Kunst durch den spätsteinzeitlichen Höhlenmenschen und dem Arrangement als lebendes Votivbild, das neben einer Bibelszene, einer Legende oder einem Wunder auch die dankbaren Gläubigen zeigt. Die szenische Aufführung von Händels „Brockes-Passion“, mit der ursprünglich das Team um Florian Lutz seine fünfjährige Hallesche Zeit abschließen wollte, übernahm jetzt der neue Opernintendant Walter Sutcliffe. Aber keine Illustrierung des Passions- und Evangeliengeschehens schwebten ihm und seinem Chefdramaturgen Boris Kehrmann vor, sondern nichts Geringeres als eine kurze Geschichte des christlichen Anthropozäns.
Streifzug durch die Worte der Schrift
In einem weißen Haus stehen kalkweiße Figuren. Das sind der Heiland und einige seiner Apostel. Davor eine junge Frau, die Tochter Zion (Vanessa Waldhart), und ein Mann, der Evangelist (Robert Sellier). Die Ausstatterin Dorota Karolczak steckt sie zuerst in Kleidung der Händelzeit. Beide unternehmen einen Streifzug durch die Worte der Schrift und deren mündliche Auslegungspotenziale. Manchmal interagieren sie auch mit einer Gruppe von Zeitgenossen innerhalb eines Meers von Korngarben, wo jeder sein eigenes kleines Haus bestellt und irgendwann mal vom Kollektivglauben abfällt.
Das dauert aber nicht allzu lange. Parallel zur biblischen Geschichte bis zum Verrat des Petrus schleichen sich l Irritationen und Sprödigkeiten in die religiösen Konversationen. Noch ist es zwischen der Tochter Zion und dem Evangelisten ein Disput mit nur geringen Meinungsverschiedenheiten. Die erste größere Zäsur kommt durch die Jungfrau Maria, als die Romelia Lichtenstein wie ein kraftvolles Porträt aus der niederländischen Malerschule erscheint. Dann glühen kurz vor der Pause erstmals Lavabrocken im noch weißen Ambiente der Passionsspielfläche und der erste leichte Ascheregen rieselt. Johannes Köhler hat mit dem Chor der Oper Halle dazu ein Gemisch verschiedener Stimmungen erarbeitet: Fragend, zögernd und nie machtvoll wie zum Leistungsbeweis.
Tunnelblick durch Smartphone-Linsen
Genauso wie in den Prognosen zum Artensterben und Klimawandel durch das Anthropozän beschleunigen sich im zweiten Teil die von Menschen konstruierte Gottferne und Verschrottung der Welt. Nur wirken da die Video-Projektionen inklusive der einstürzenden Twin Towers und der großen Vereinsamung durch Konsumflitter und Tunnelblick durch Smartphone-Linsen langsamer als die Katastrophe der versachlichten Psychen selbst. Anstelle des Blicks zum Heiland steht die Selbstbespiegelung, während alles in den letzten Rettungszuckungen der Natur oder im Müll kollabiert. Und das ist nicht „Apocalypse Now“, sondern „Brockes-Passion“ 2021.
Bei seiner zweiten Premiere und Regie in nur fünf Wochen – vorausgegangen war Brittens „Sommernachtstraum“ – zeigt Walter Stucliffe deutlicher, worum es ihn geht. Klare Bilder will er – gewiss mit materiellem Aufwand, aber auch mit inhaltlichen Aussagen. Den Text seines Halleschen Bekannten Barthold Heinrich Brockes vertonte Händel in London für eine Hamburger Aufführung im Jahr 1719 unter dem Titel „Der für die Sünde der Welt gemarterte und sterbende Jesus“ (HWV 48). Das Faszinierende an diesem Text waren und sind dessen unmittelbare Dramatik, die Kurzmonologe biblischer Gestalten und emotionsstarke Betrachtungen der Passion bei starker Zurückdrängung erzählender Passagen. Diesen verschiedenen Ebenen nähern sich Sutcliffe und sein Team nachdenklich, aber nicht verkrampft. Ohne extrovertierte Darstellung gewinnen auch Episodenfiguren wie Leandro Marziotte als Judas und Jorge Navarro Colorado als Petrus neben dem intuitiv packenden Jesus von Michael Zehe an Kontur.
Ohne Moralattitüde
Bild- und Szenenebenen stimmen, weil sich weder Verlegenheiten vor dem religiösen Geschehen noch gefühlige Entgleisungen oder gar Moralattitüden zeigen. Gerade über der schreiend bunten Plastik- und Pailetten-Welt kurz vor dem mit oder ohne göttliche Fügung eintretenden irdischen Gericht liegt lähmende, stille Traurigkeit. Yulia Sokolik endet den Auftrittsreigen der Solisten als Gläubige Seele in Gestalt einer Modehostess. Selten wirkt Dekadenz auf der Bühne so unspektakulär, sensationsunlustig und dabei situationsangemessen deprimierend.
Wie vor zwei Jahren bei „Julius Caesar“ steht Michael Hofstetter vor dem Händelfestspielorchester und erarbeitet mit diesem authentische und erdige Klänge. Er gehört zu den zustimmenden Pragmatikern, wenn wie am Ende der „Brockes-Passion“ der Chor mit dramaturgischer Legitimation unter Knistern aus dem Hintergrund singt. Die Solistenpartien klingen sehr direkt, ehrlich und erfreulich unvirtuos. Händels 106 Einzelnummern wirken karger, geradliniger als die Bach-Passionen – und sprechen als Szenenmusiken zu den nur 250 zugelassenen Zuschauern. Hofstetter glaubt man sofort, dass eine Barockkomposition vor 300 Jahren fast so geklungen haben könnte wie in der Oper Halle an diesem Premierenabend. Der szenische Bilderbogen über das schleichende Ende der Glaubensfestigkeit und die Metamorphose der Christenseelen zum auf den Vulkanen heutiger Katastrophen tanzenden Homo Novus hat das Zeug zum säkularen Mysterienspiel.