A Corps Perdu

Reminiszenzen

Sandra Hüller, Tom Schneider, Alice Gartenschläger: À corps perdu

Theater:Münchner Kammerspiele, Premiere:20.11.2014 (UA)

Von der Decke baumeln blaue Müllsäcke in den leeren Raum. Sie wackeln  oder tanzen sie? Dunkel. Drei Puppenmasken linsen durch die Ritzen in der Wand. Dunkel. Sie haben ihre Positionen verändert. Dunkel. Sie kriechen unter der Wand hindurch auf die Bühne, kauern sich in einer Ecke zusammen. Diese drei Puppen in Schneeanzügen, die wie aus der Zeit gefallen wirken. Wie ein Blick zurück in die 70er Jahre. Später werden sie sich häuten, sich aus ihren Schneeanzügen schälen und zu drei Frauen werden: Es entpuppen sich die Schauspielerin Sandra Hüller, die Musikerin Philine Lembeck und die Tänzerin Alice Gartenschläger. Sie finden sich wieder in einem Raum voller Erinnerungen, aber ohne Orientierungshilfen. Ein leerer, für alles offener Raum. Hüller entdeckt ein Paar Schuhe, erforscht sie und umkreist ihre Wesenheit, wie sie es später auch mit der Wand tun wird. Sie fängt in ihren Selbstgesprächen bei Null an. Der Boden: ein Schachbrett ohne Schwarz. Die Wände: wolkenweiß? Eiweiß? Zahnweiß? Nebelweiß? Oder ? Notenblätter? „Sitzmöbel mit speziellem Anspruch an den Körper“? In jedem Fall voller Möglichkeiten: Durch diese Wände kann man spähen, man kann an ihnen hochklettern und zurückfallen, sich hinter ihnen verstecken oder sich an ihnen anlehnen.

„À corps perdu“ nennt sich das Tanzprojekt von Sandra Hüller, Alice Gartenschläger und Tom Schneider, das jetzt im Werkraum der Münchner Kammerspiele uraufgeführt wurde. Es ist eine Reminiszenz. An die verlorenen Körper. Auch: an verlorene Zeiten. Verlorene Eindrücke. Gefühle. Sandra Hüller leiht sich einen Titel der britischen Band Bastille, um ihren Ansatz zu beschreiben: „Things we lost in the fire“. Es ist der Versuch, zurückzukehren zum ersten Eindruck, der noch nicht von der Erfahrung verstellt ist. Zurück zum reinen Blick. Ein Ringen darum, den Ballast abzuwerfen und zurück zu einer kindlichen Leichtigkeit zu finden. Ohne Irrungen und Wirrungen. „Eine ganz klare Biographie sollte man immer dabei haben“, heißt es einmal. Doch so einfach ist es nicht. Die Puppensachen werden in einen Müllsack gepackt und an die Decke hochgezogen. Zu den anderen Erinnerungen an die Kindheit?

Philine Lembeck spielt am Cello ein Liebeslied, Hüller und Gartenschläger tanzen. Synchron. Oder  fast synchron. Es geht nicht um Perfektion an diesem Abend, nicht um Virtuosität. Es geht um das Gefühl fürs große Ganze  und darin sind sie virtuos. Ihr Tanz ist ein Stück Leben. Mit Rückschlägen. Neuanfängen. Momenten der Ruhe. Der Anstrengung. Der Erschöpfung. Der Rastlosigkeit. Der Verunsicherung. Des Aufschreckens. Des Anfangens und des Endens. Durchzogen von der immerwährenden Frage nach Vertrauen und Anerkennung. „Irgendetwas funktioniert doch extrem gut“, wendet sich Lembeck einmal ans Publikum. „Irgendetwas an mir ist doch extrem erfolgreich. Könnten Sie mir das nicht kurz bestätigen?“ Doch dann folgt schon wieder die Dunkelheit.

Szene an Szene reiht sich hier scheinbar zusammenhangslos aneinander. Manchmal sind es nur Sekunden, bevor alles wieder ins Dunkel getaucht wird. Einmal wird eine der Bodenplatten aufgestellt, man blickt auf eine Wand voller Polaroids. Ein Puzzle aus Schnappschüssen, Erlebnissen, Gefühlen. Wie diese Momentaufnahmen fügt sich auch dieser kleine zarte Abend zum Bild einer Suche. Einer Suche nach Sinn. Nach sich selbst. Einer Suche, die das Leben ist. Es ist ein Abend voller Einfälle und bei allem Surrealismus auch voller Humor. Voller Bilder, die sich einprägen. Wie Sandra Hüller auf einem Podest hinter Philine Lembeck steht, zu deren Celloklängen ein Lied von Katja Ebstein singen will. Immer wieder wird sie von ihrer Unsicherheit übermannt, schiebt das Podest an eine andere Stelle, setzt wieder an: „Dir will ich vertrauen, deine Augen lügen nicht…“ Als sie endlich ihren Platz gefunden hat und singt, kommt Alice Gartenschläger, schiebt das Podest weg. So ist das im Leben.