Foto: Mit dem Happy End geht's ein bisschen schnell, aber die Stimmen von Ina Schlingensiepen (Prinzessin Theres, l.) und Dilara Bastar (Fantasio) harmonieren auch vorher schon aufs Schönste. © Falk von Traubenberg
Text:Detlef Brandenburg, am 14. Dezember 2014
Trommelwirbel! Eine Fanfare kündet von Haupt- und Staatsaktion. Doch ganz unmittelbar antwortet ihr ein dunkelmelancholischer Nachtgesang der tiefen Streicher, der wiederum wandelt sich im Nu in einen duftigen, nonchalant vor sich hin trauernden Walzer. Keine drei Minuten Musik – aber eine ganze musikalische Welt in einer Nussschale! Doch dann ein Schepper!, ein Kreisch! – da ist auch schon wieder die Regie dazwischen gefahren. Das Fräulein Prinzessin hat den Kleiderständer umgeworfen, die Hofdamen juchzen vor Schreck. Man kann den hochwohlgeborenen Kummer ja verstehen. Die Dame soll aus Gründen der Staatsräson den ihr bis dato unbekannten Prinzen von Mantua ehelichen. Das Bayern, das Papa König schlecht und recht regiert, ist heillos verschuldet, nun soll die politische Heirat der Tochter mit dem Prinzen die Staatsfinanzen sanieren. Die Musik spricht hier von tiefer Herzensverzagtheit, die Regie aber antwortet mit Rumsperdauz. Und genau so sagt diese kleine Episode zu Beginn des zweiten Aktes eine ganze Menge über diesen Abend, an dem am Staatstheater Karlsruhe Jacques Offenbachs Opéra-comique „Fantasio“ erstmals in der kritischen Edition von Jean-Christophe Keck szenisch auf der Bühne zu erleben ist.
„Fantasio“ ist Jacques Offenbachs fünfte Oper. Sie entstand nach einen Libretto von Paul de Musstet unmittelbar vor „Hoffmanns Erzählungen“ und wurde am 18. Januar 1872 an der Pariser Opéra-Comique uraufgeführt – und nach nur zehn Vorstellungen schon wieder abgesetzt. Die spöttische Anti-Kriegs-Schlussansprache des Titelhelden Fantasio passte einfach nicht ins patriotisch aufgeheizte Klima nach dem Deutsch-Französischen Krieg. Nach Offenbachs Tod 1880 wurden die originalen Manuskripte dann aufgrund aberwitziger Erbstreitigkeiten in alle Welt verstreut. Grundlagen neuerer Aufführungen wurden daher meist der gedruckte Klavierauszug der Pariser Uraufführung sowie die erhaltene Partitur der musikalisch erheblich veränderten deutschsprachigen Erstaufführung am 21. Februar 1872 in Wien. Erst Jean-Christophe Keck gelang es, mit der Rekonstruktion der Pariser Fassung auch Offenbachs geniale Instrumentation wieder herzustellen. In dieser Fassung, die das Badische Staatstheater allerdings in deutscher Sprache spielt, ist das Werk eine echte Entdeckung.
Was neben dem außerordentlich facettenreichen Klangbild vor allem fasziniert, ist die phantastisch irrlichternde Vielschichtigkeit dieser Opéra-comique. Am hervorstechendsten ist zwar die komödiantische Opéra bouffe-Ebene, die sich in der Parodie auf den bierseligen Kleinstaat Bayern und seinen vertrottelten König, in den Rollentausch-Szenen zwischen dem Prinzen von Mantua und seinem Adjutanten Marinoni und auch im Hals über Kopf bewerkstelligten Mesalliance-Happy-End breiten Raum verschafft. Daneben aber steht die „romantische“, von tiefer Melancholie überschattete Liebesgeschichte zwischen Fantasio und der bayerischen Prinzessin Theres. Und im revolutionären Geist Fantasios und seiner Mitstudenten schließlich nehmen Offenbach und Musset die Stimmungen des Vormärz auf, die nach 1848 durch die Restauration erstickt wurden. Außerdem spielen etliche Episoden und Motive sehr direkt auf historische Ereignisse in Zusammenhang mit dem Deutsch-französischen Krieg an.
Buffa-Komik, romantische Melancholie, politischer Appell – all das auf einen interpretatorischen Nenner zu bringen, ist eine echte Herausforderung sowohl an den Dirigenten wie auch an den Regisseur. Andreas Schüller als Gast am Dirigentenpult der Badischen Staatskapelle – im Hauptberuf ist er seit 2013 Chefdirigent der Staatsoperette Dresden – entledigt sich dieser vertrackten Aufgabe bravourös. All die vielen unvermittelten Stimmungsumschwünge gestaltet er mit einer Wendigkeit und gleichsam naturwüchsigen Selbstverständlichkeit, dass es die pure Freude ist. Zudem bringt er im fein gewebten, nie dicken oder diffusen Klangbild Offenbachs Instrumentationsfinessen bestens zu Geltung. Das Klangbild funkelt nur so vor exquisiten Farben.
Bei der Premiere stand Schüller zudem ein ausgezeichnetes Sängerensemble zur Verfügung, bei dem die 1988 in Istanbul geborene Mezzosopranistin Dilara Bastar als Fantasio und die lyrische Koloratursopranistin Ina Schlingensiepen aus dem Karlsruher Opernensemble als Prinzessin Theres ein ideal harmonierendes Protagonistenpaar bildeten. Dilara Bastars Mezzo hat ein in der Tiefe herb schattiertes, in der Höhe klar leuchtendes Timbre, mit dem sie ihrem Fantasio viel Charakter gibt. Dass die Partie ihr etliche Legato-Kantilenen in unangenehm tiefer Lage abverlangt, war manchmal spürbar, insgesamt aber gelang ihr eine ebenso wohlklingende wie empathische Interpretation dieses Liebes- und Freiheitshelden. Auch Ina Schlingensiepens Sopran hat viel Leuchtkraft, die in der Höhe zwar ein bisschen angeraut ist. Aber sie führt ihre Stimme mit herzerweichender Einfühlsamkeit und vorbildlicher künstlerischer Delikatesse. So wurde das Liebesduett der beiden im dritten Akt zu einem großen Höhepunkt des Abends.
Aber auch sonst ist das Ensemble bestens durchbesetzt: Renatus Meszars markant-komischer König von Bayern, Gabriel Urrutia Benets viriler Prinz von Mantua, Klaus Schneider als Marinoni mit kraftvollem Charaktertenor, die vokal sehr profilierten, von Dennis Sörös als Spark klangvoll angeführten vier Studenten, der von Ulrich Wagner bestens einstudierte Chor – sie alle machen diese Produktion zu einem großen musikalischen Erlebnis.
Der Regisseur Bernd Mottl dagegen legt seine von Otto Pichler choreographisch animierte Inszenierung im Bühnenbild von Friedrich Eggert und den Kostümen von Alfred Mayerhofer allzu einseitig auf die puppenlustige und bilderbuchbunte Komik fest. Da wird ohne allzu viel Rücksicht auf musikalische Stimmungen gefuchtelt und gezappelt, gekaspert und gehaspelt, die revolutionären Studenten agieren in ihren bunten T-Shirts über stilisierten Lederhosen-Shorts wie Testosteron-gedopte Collegeboys mit Schuhplattler-Anwandlungen und Kung-Fu-Ausfällen, das bayerische Volk paradiert choreographisch zwischen Puppenstuben-Fachwerkhäuslein vor Alpenkulisse – für alles, was diese attraktiv irrlichternde Opéra-comique anbietet, hat Mottl einen Gag parat. Mehr aber leider nicht. Dabei wäre es doch reizvoll gewesen, ihre rapiden Stimmungsumschwünge, ihr seltsam nervös wechselndes, geradezu manisch-depressives Temperament aufzunehmen, sich an den politischen Anspielungen abzuarbeiten. Gut – man sieht, wie die bayerische Volkskunst zum Ausverkauf freigegeben und durch global vermarktete Konsumgüter ersetzt wird. Aber diese Aktionen mit Pappkartons, deren QR-Codes auf den globalen Warenverkehr verweisen sollten, bleiben belanglos und aufgesetzt.
Und so macht diese verdienstvolle Karlsruher Neuentdeckung mächtig Lust auf eine Wiederbegegnung – in einer Inszenierung, die sich dem Werk in all seinen Tiefen und Untiefen stellt, statt es über den einen Kamm eines allzu fasslichen Humors zu scheren.