Foto: Szene aus "Vasco da Gama (L’Africaine – Die Afrikanerin)" an der Deutschen Oper Berlin © Bettina Stöss
Text:Joachim Lange, am 5. Oktober 2015
In der Grand Opera „Vasco da Gama“ von Giacomo Meyerbeer (1791-1864) ist die Stimme der Vernunft spät zu vernehmen. Und sie ist weiblich. Da ist der Irrsinn schon ziemlich weit fortgeschritten, schon massenhaft versklavt und gemordet und aus Rache wieder versklavt und geopfert worden. Bis endlich die indische Königin Selica den einen, aus heutiger Sicht vernünftigen Gedanken fasst, um die religiösen Eiferer in ihren Reihen zu stoppen und sich selbst den geliebten „Feind“ als Mann zu erhalten. Dabei hatte der Portugiese Vasco da Gama sie als Sklavin gekauft, als es gerade passte aber auch mit leichter Hand wieder verschenkt. Jedenfalls setzt sich Selica mit ihrem Plan durch: Sie gibt den kühnen Seefahrer, der beim Gemetzel nach ihrer Ankunft daheim noch übrig geblieben war, als ihren Gatten aus, der ihr Leben und ihre Ehre gerettet habe und lässt sich das öffentlich ausgerechnet vom Scharfmacher und in sie verliebten Priester Nelusco bestätigen. Das verschafft dem viereinhalbstündigen Abend zu fortgeschrittener Stunde ein ausführliches Liebesduett der beiden. Soviel Happyend ist trügerisch und kann natürlich nicht gut gehen. Zumal Vascos eigentliche portugiesische Braut Ines, dank Eugèn Scribes konsequenter Librettisten-Willkür, den Massenmord an den mit gesegelten (noch so eine Erfindung) Frauen überlebt hat und sich zu einem passgenauen Auftritt in der Liebesnacht der indischen Königin und ihres portugiesischen Seefahrers einfindet. Am Ende wundert man sich dann auch nicht, dass diese zu Lebzeiten Meyerbeers nicht mehr uraufgeführte Grand Opera eigentlich „Die Afrikanerin“ heissen sollte, obwohl die Titelheldin aus Indien stammt.
Die Deutsche Oper in Berlin wendet sich bewusst mit dieser Spielzeit der Grand Opera zu und Vera Nemirovas Inszenierung eröffnet diesen Reigen. Auch wenn Wagner ja bekanntlich über seinen recht weltoffenen französischen Konkurrenten lästerte, dass dessen Musik „Wirkung ohne Ursache sei“ ist das ein begrüßenswertes Vorhaben. Auch der Verächter gesteht ihm damit ja zumindest die gewaltige Wirkung zu, die der zu seiner Zeit hatte. Dass dessen Musik die auch heute noch zu entfalten vermag, davon konnte man sich bei Enrique Mazzola und dem Orchester der Deutschen Oper überzeugen. Mit großen Tableaus, standfesten Solisten und einem gewaltigen Choraufwand ging es ans eloquente Schwelgen. Das ist musikalisch allemal großes Kino. Und „Vasco da Gama“ wie die kritische Neuausgabe, die vor zwei Jahren in Chemnitz uraufgeführt wurde, sinnvoller heisst, ist ein Musterexemplar der Gattung. Etwas gewöhnungsbedürftig aber doch faszinierend, halt die französische Variante der großen Wagner- oder Verdigeste.
Am Ende braucht man ein weites Herz, um zusammen zu denken, was nicht immer so ganz zusammenpasst. Das Einheitsbühnenbild von Jens Kilian hilft dabei – obwohl die halbrunde Riesen-Scheibe und die darum aufgestellte Kuppel aus Segmenten die an Calatrava erinnert, die Palast und Schiff genauso wie Tempel oder Todesbaum sein können, die direkte Bebilderung der Geschichte mehr verweigert, als liefert. Nemirova erzählt gleichwohl vom Wahnsinn auf allen Seiten. Vom rassistischen Erobererhochmut der Europäer, die sich einfach die schönsten Teile der Welt zusammenrauben und die Menschen, die dort leben, versklaven. Aber auch von der mörderischen Brutalität der in dem Falle indischen Glaubensfanatiker, die am liebsten allen Ungläubigen die Kehle durchschneiden würden. Und es machen, wenn sie können. So wechselt der bei Roberto Alagna manchmal etwas allzu kraftvoll angeraute, oft schmetternde Vasco ziemlich bedenkenlos zwischen seiner angebeteten Inès (die Nino Machaidze leidenschaftlich ausstattet) und der Titelheldin, die Sophie Koch mit Würde und manchmal der betonten Härte versieht, die ihre Selbstaufopferung unter dem magischen Giftbaum am Ende glaubhaft macht. Nemirova versucht gar nicht erst den Tableaus zu entkommen, sie arrangiert sich damit. Manchmal blitzt der Kurzschluss zwischen dem Zusammenprall der Kulturen von damals und heute wie in einem Spott auf und spielt mit den Bildern von heute. Meist aber bleibt den Zuschauern der Raum für eigene (Rück-)Schlüsse. Was kein Nachteil ist.