Der erste Akt erzählt jene Kleinfamilien-Tragödie, die – natürlich – aus Stockhausens Jugend gespeist wird. Der Raum ist zweigeteilt. Im Zentrum der Drehbühne steht ein unregelmäßiger Glaszylinder, oben abgeschlossen durch ein Drehband, auf das immer wieder Videos projiziert werden, mal abstrakte Muster, die auf Bauformen der Komposition verweisen, oft konkrete Bilder. Im Innenraum wird Geburtstag gefeiert, von drei Statisten mit übergroßen Puppenköpfen als Spiegelung der Protagonisten. Davor etabliert die Regisseurin Lydia Steier eine hochkonzentrierte, genau gebaute Strindberghölle. Da steht der junge Michael zwischen dem Luzifer-Vater, dessen Leben aus Jagd, Krieg und Volkslied besteht und der herzlichen, aber oberflächlichen Eva-Mutter. Steier findet große, gegen die Musik bestehende Bilder für die Weglosigkeit des jungen Michael, dem Peter Tantsits viel Beweglichkeit und noch mehr Sehnsucht schenkt. Die von Anu Komsi ungeheuer ausdrucksstark gesungene und gespielte Mutter erleidet hier eine Fehlgeburt, weswegen sie der Vater wegsperren lässt. Und dieser selber dringt samt Gewehr in Michaels erotische Träume ein.
Dann, bei einem derart groß dimensionierten Projekt geht es vielleicht gar nicht anders, verrennt sich die Regisseurin ein wenig. In ihrem Bemühen um Erdung des dramatischen Geschehens, will sie Michael nicht, wie bei Stockhausen vorgesehen, durch den Himmel fliegend auf Weltreise schicken, sondern nur in seinem Kopf. Dafür deutet sie das Musikexamen zur Anamnese im Irrenhaus um und versenkt das Ende des ersten und den Anfang des zweiten Aktes in einer scheinrealistisch kleinteilig ausgezierten Krankenhauswelt voller vernutzter Regietheater-Accessoires. Auch die die Reise plan bebildernden Videos von Chris Kondek helfen hier nicht weiter. Aber, und das scheint gerade hier besonders bemerkenswert, Steier verliert den Faden nicht, vertraut Stockhausens Dramaturgie und ihrer eigenen Vision und Musikalität. So entwickelt sie aus der, vielleicht auch so gemeinten, Leere der Irrenanstalt die stumme Wiederbegegnung von Mutter und Sohn einer-, von Trompete und Bassetthorn andererseits, einen atemberaubenden, endlosen Moment, von im Musiktheater selten zu erlebender Intensität.
Im dritten Akt ist Steier dann ganz bei sich. Hier lädt sie das Pathos Stockhausens geradezu zärtlich und nie denunziatorisch mit Ironie auf, verlässt sich dabei auf das herausragende Timing von Rolf Romei als Michael in Christusgestalt und gießt eine kleine Zitatenmaschine über die Himmelsszenerie aus. Die Chortribünen erinnern vage an den Kölner „Parsifal“ von La Fura dels Baus, der Einsatz einer Video-Roboter-Skulptur nicht nur an die Installationen von Nam June Paik, sondern auch an die Wiener „Moses und Aron“ – Inszenierung von Reto Nickler. Dazu kreist das Videoband anspielungsschwanger, überbietet sich Olaf Freese mit Lichteffekten, rast der Chor mit seinen Blechglanzkostümen und blauen Schuhen, dröhnt Michael Leibundgut als passgenau charmanter Dämon. Und Steier hat auch, wie schon den ganzen Abend, die komplexe Aufspaltung der Figuren in jeweils einen Sänger, Tänzer und Instrumentalisten hervorragend im Griff. Nichts wirkt gezwungen, schon gar nicht in der langen Schlussszene, die ganz Rolf Romei gehört. Ganz still steht er, sein Gesicht schwarz-weiß projiziert. Der Trompeter begleitet, die Tänzerin zeigt Stockhausens Gesten und Romei singt, überlebensgroß und meistens sehr leise, die Essenz des Abends, ein Bekenntnis zur Liebe an sich. Ohne jeden Schnickschnack. Berührend.
Der Dirigent Titus Engel, der im ‚Gruß‘ herrlich verschroben selber mitspielt, hat mit dieser Einstudierung ein Meisterstück geschaffen. Alles ist klar, nichts klumpt, die lyrische Emphase scheint stets durch, die dramatische Kraft, das gewaltige Konstrukt wird nie aus den Augen verloren. Jeder einzelne Musiker des Sinfonieorchesters Basel vollbringt besonderes. Auch durch die feinst austarierte Klangregie von Kathinka Pasveer scheint die freie, fast beschwingte Intensität des Musizierens den Zuschauer nahezu zu absorbieren, ihn zum Teil des Kunstwerks zu machen. Am Ende, wenn man auf den Theatervorplatz tritt, wehen die Trompetentöne des „Abschieds“ von umliegenden Kirch- und Museumsbalkonen über einen hinweg und helfen dabei, sich zu lösen.
Stockhausen ist und bleibt schwierig. Immer monströs, immer nah am Kitsch, aber musikalisch und inhaltlich immer mit großem Reichtum. Und in vieler Hinsicht brandaktuell. Und die Anforderungen bleiben gewaltig. Auch das Baseler Theater hat seine epochale Aufführung nur viermal disponiert. Und dennoch möchte man allen Opernhäusern zurufen: Spielt Stockhausen!