Foto: 'Michaels Jugend' als gespiegelte Strindberghölle. Im Vordergrund v.l.: Peter Tantsits (Michael), Michael Leibundgut (Luzifer), Anu Komsi (Eva) © Sandra Then
Text:Andreas Falentin, am 27. Juni 2016
Noch immer fremdeln selbst die großen Opernbühnen mit dem siebenteiligen „Licht“-Zyklus von Karlheinz Stockhausen, der, zumindest was die Maßlosigkeit, ja, Monstrosität der Anlage betrifft, Wagners „Ring des Nibelungen“ aussehen lässt wie ein ambitioniertes Schulprojekt. Die Theater scheuen die Umfänge, die technischen und künstlerischen Anforderungen. Sie misstrauen Stockhausens ins Kosmische strebender weltumfassender, bedeutungswütiger und doch hochkonzentrierter Dramaturgie und wohl auch deren Publikumswirksamkeit. Dabei hat eigentlich so gut wie jede Inszenierung, hierzulande zuletzt die Kölner Uraufführung des „Sonntag“, gezeigt, wie sehr gerade diese Werke geeignet sind, den nach Zuspruch gierenden Häusern neue Publikumsschichten zu erschließen. Nicht nur in dieser Hinsicht lässt sich der grandios gelungene Baseler „Donnerstag aus Licht“ als flammendes Plädoyer für den Musikdramatiker Stockhausen auffassen!
Zentrale Figuren in Stockhausens Heptalogie sind der helle Mann Michael, sein dunkler Gegenpol Luzifer und die Frau Eva, wobei diese Figuren kaum im Sinne einer christlichen Mythologie geführt werden. Im „Donnerstag“ etwa, dem ältesten, 1981 in Mailand uraufgeführten und nur einmal, 1985 in London, nachinszenierten Werk, begegnen uns die drei Figuren zu Beginn als Kleinfamilie, Luzifer als Vater, Michael als Sohn. Der Beginn vor dem Beginn ist, wie in allen „Licht“ – Dramen, ein ‚Gruss‘. In Lydia Steiers Inszenierung schleichen junge Menschen in Samtanzügen mit Pilzkopffrisuren und E-Zigaretten durchs Foyer des Baseler Theaters – aus der Zeit gefallene, psychedelische Party-People, die sich dann auf die kleine Bühne mit der 70er-Big-Band-Fernsehshow-Dekoration verirren und wunderbar verschroben miteinander musizieren und so Material aus dem ‚Michael‘ – Teil von Stockhausens Superformel zur Verfügung stellen, der musikalischen Keimzelle des ganzen Zyklus. Wir sind in der Entstehungszeit des Stückes angekommen. Unsere Antennen sind geschärft für die historischen und biographischen Bezüge, an denen dieses spezielle Stück so reich ist, dass manche Kritiker und Wissenschaftler das als dramaturgische Schwäche sehen.
Der erste Akt erzählt jene Kleinfamilien-Tragödie, die – natürlich – aus Stockhausens Jugend gespeist wird. Der Raum ist zweigeteilt. Im Zentrum der Drehbühne steht ein unregelmäßiger Glaszylinder, oben abgeschlossen durch ein Drehband, auf das immer wieder Videos projiziert werden, mal abstrakte Muster, die auf Bauformen der Komposition verweisen, oft konkrete Bilder. Im Innenraum wird Geburtstag gefeiert, von drei Statisten mit übergroßen Puppenköpfen als Spiegelung der Protagonisten. Davor etabliert die Regisseurin Lydia Steier eine hochkonzentrierte, genau gebaute Strindberghölle. Da steht der junge Michael zwischen dem Luzifer-Vater, dessen Leben aus Jagd, Krieg und Volkslied besteht und der herzlichen, aber oberflächlichen Eva-Mutter. Steier findet große, gegen die Musik bestehende Bilder für die Weglosigkeit des jungen Michael, dem Peter Tantsits viel Beweglichkeit und noch mehr Sehnsucht schenkt. Die von Anu Komsi ungeheuer ausdrucksstark gesungene und gespielte Mutter erleidet hier eine Fehlgeburt, weswegen sie der Vater wegsperren lässt. Und dieser selber dringt samt Gewehr in Michaels erotische Träume ein.
Dann, bei einem derart groß dimensionierten Projekt geht es vielleicht gar nicht anders, verrennt sich die Regisseurin ein wenig. In ihrem Bemühen um Erdung des dramatischen Geschehens, will sie Michael nicht, wie bei Stockhausen vorgesehen, durch den Himmel fliegend auf Weltreise schicken, sondern nur in seinem Kopf. Dafür deutet sie das Musikexamen zur Anamnese im Irrenhaus um und versenkt das Ende des ersten und den Anfang des zweiten Aktes in einer scheinrealistisch kleinteilig ausgezierten Krankenhauswelt voller vernutzter Regietheater-Accessoires. Auch die die Reise plan bebildernden Videos von Chris Kondek helfen hier nicht weiter. Aber, und das scheint gerade hier besonders bemerkenswert, Steier verliert den Faden nicht, vertraut Stockhausens Dramaturgie und ihrer eigenen Vision und Musikalität. So entwickelt sie aus der, vielleicht auch so gemeinten, Leere der Irrenanstalt die stumme Wiederbegegnung von Mutter und Sohn einer-, von Trompete und Bassetthorn andererseits, einen atemberaubenden, endlosen Moment, von im Musiktheater selten zu erlebender Intensität.
Im dritten Akt ist Steier dann ganz bei sich. Hier lädt sie das Pathos Stockhausens geradezu zärtlich und nie denunziatorisch mit Ironie auf, verlässt sich dabei auf das herausragende Timing von Rolf Romei als Michael in Christusgestalt und gießt eine kleine Zitatenmaschine über die Himmelsszenerie aus. Die Chortribünen erinnern vage an den Kölner „Parsifal“ von La Fura dels Baus, der Einsatz einer Video-Roboter-Skulptur nicht nur an die Installationen von Nam June Paik, sondern auch an die Wiener „Moses und Aron“ – Inszenierung von Reto Nickler. Dazu kreist das Videoband anspielungsschwanger, überbietet sich Olaf Freese mit Lichteffekten, rast der Chor mit seinen Blechglanzkostümen und blauen Schuhen, dröhnt Michael Leibundgut als passgenau charmanter Dämon. Und Steier hat auch, wie schon den ganzen Abend, die komplexe Aufspaltung der Figuren in jeweils einen Sänger, Tänzer und Instrumentalisten hervorragend im Griff. Nichts wirkt gezwungen, schon gar nicht in der langen Schlussszene, die ganz Rolf Romei gehört. Ganz still steht er, sein Gesicht schwarz-weiß projiziert. Der Trompeter begleitet, die Tänzerin zeigt Stockhausens Gesten und Romei singt, überlebensgroß und meistens sehr leise, die Essenz des Abends, ein Bekenntnis zur Liebe an sich. Ohne jeden Schnickschnack. Berührend.
Der Dirigent Titus Engel, der im ‚Gruß‘ herrlich verschroben selber mitspielt, hat mit dieser Einstudierung ein Meisterstück geschaffen. Alles ist klar, nichts klumpt, die lyrische Emphase scheint stets durch, die dramatische Kraft, das gewaltige Konstrukt wird nie aus den Augen verloren. Jeder einzelne Musiker des Sinfonieorchesters Basel vollbringt besonderes. Auch durch die feinst austarierte Klangregie von Kathinka Pasveer scheint die freie, fast beschwingte Intensität des Musizierens den Zuschauer nahezu zu absorbieren, ihn zum Teil des Kunstwerks zu machen. Am Ende, wenn man auf den Theatervorplatz tritt, wehen die Trompetentöne des „Abschieds“ von umliegenden Kirch- und Museumsbalkonen über einen hinweg und helfen dabei, sich zu lösen.
Stockhausen ist und bleibt schwierig. Immer monströs, immer nah am Kitsch, aber musikalisch und inhaltlich immer mit großem Reichtum. Und in vieler Hinsicht brandaktuell. Und die Anforderungen bleiben gewaltig. Auch das Baseler Theater hat seine epochale Aufführung nur viermal disponiert. Und dennoch möchte man allen Opernhäusern zurufen: Spielt Stockhausen!