Foto: Anke Berndt als Rusalka an der Oper Halle © Ralph Schulz
Text:Roberto Becker, am 27. Januar 2020
Auf den ersten Blick ist Antonín Dvořáks (1841-1904) Oper „Rusalka“ ein romantisches Märchen der ziemlich traurigen Art. Da ist auf der einen Seite die Wassernixe, die sich in einen Prinzen verliebt, Mensch werden will und dafür ihre Stimme opfert. Auf der anderen Seite der Prinz, der sich seinerseits in das Zauberwesen verliebt und es erjagt, als wäre es das weiße Reh, hinter dem er eigentlich her war. Die beiden kriegen tatsächlich ihre Chance. Vor allem, weil sie alles auf eine Karte setzt. Sie schlägt die Warnungen des fürsorglichen Wassermannes vor so einem Wechsel der Lebensumwelt in den Wind. Sie versichert sich der Hilfe dunkler Mächte. Die Hexe Ježibaba „hilft“ Rusalka, verschafft ihr eine Seele und ermöglicht ihr das Laufen auf zwei Beinen. Als Preis muss Rusalka auf ihre Stimme verzichten. Als die Sache schief geht, weil der Prinz sich der fremden Fürstin zuwendet und Rusalka sich enttäuscht und verletzt von ihm trennt, verlangt die Hexe für ihre Hilfe gar das Blut des Prinzen. Nur für diese Gegenleistung würde sie ihr die Rückkehr in ihre frühere Existenz ermöglichen, die ihr ansonsten verschlossen bliebe. Fazit: Sie konnten zusammen nicht bleiben, denn sie war (für ihn) nicht Mensch genug geworden. Und er war es als untreuer Mann wohl zu sehr…
An der Oper Halle erzählt Regisseur Veit Güssow die Geschichte als lyrisches Märchen. Mit jeder Menge Wald. Den hat Bühnenbildnerin Daniela Kerck als Prospekt und mit einem richtigen Baumstamm, den der Jäger und der Küchenjunge sogar erklimmen, auf die Bühne gezaubert. Dazu gibt es einen Steg am Waldsee und per Video ergänzende Wasserfluten. Das fügt sich atmosphärisch zu einem romantisch opulenten Ganzen. Es gibt aber auch einen doppelten Boden.
Die Inszenierung balanciert auf der Grenze zwischen den Welten. Niemand hat hier etwas Zauberhaftes an sich. Überall beschädigte Seelen, die verzweifelt sind; da sind höchstens der Jäger und der Küchenjunge ein Lichtblick. In einem flachen Bungalow mit einer Panoramafensterfront sieht man Menschen bei Therapieübungen auf dem Boden oder (samt Prinzen) im Kreis sitzen. Oder sie bewegen sich mit verkrampfter Körperhaltung und leerem Gesicht durch den Nebel. Zur Ballettmusik tanzen sie wie Zombies zuckend und haben durchsichtige Blasen in den Händen, die Seelen oder vielleicht auch ungeborene Kinder verdeutlichen könnten. Was Paloma Figueroa hier für das Ballettstudio und den nicht nur fabelhaft singenden, sondern auch spielenden Opernchor choreographiert hat, macht die Schichten jenseits der sichtbaren Welt auf beklemmende Weise nachvollziehbar. Es sagt viel über den Wunsch etwa verstoßener, gepeinigter Frauen, aus dem Dunkel von Psychosen und Traumata ins Licht eines erfüllten Lebens zurückzukehren. Und wie sie daran scheitern. Dieser Blick hinter die Märchenfassade des Stückes wirkt bei Güssow aber nicht aufgesetzt oder gar als dekonstruierende Attacke auf das 1901 in Prag uraufgeführte lyrische Märchen, sondern fügt sich organisch in den Erzählfluss ein. Es ist diese Reise in die vielbeschworenen menschlichen Abgründe, die packt.
Anke Berndt wirft sich voll in die Sehnsucht (mit dem berühmten Lied an den Mond als Sahnehäubchen) und dann in die Verzweiflung der Rusalka. Sie wechselt vokal und vor allem darstellerisch glaubwürdig zwischen dem Wesen, das kriechen muss, weil ihre Füße miteinander verbunden sind, und der Schönheit im weißen Kleid mit den blonden Locken, die den Prinzen zunächst betört, auch wenn sie kein Wort sagt. Matthias Koziorowski sieht man als Prinzen zunächst ebenfalls in einer Therapierunde, er wird aber schnell zum virilen, zupackenden Mann, der vor der Hochzeit von Rusalka einfordert, was ihm gehören sollte.
Gesungen wird in Deutsch. Das funktioniert, da es sich um die geschmeidig gelungene Übersetzung handelt, die Bettina Bartz und Werner Hintze für die Komische Oper angefertigt haben. Weil Koziorowski seinen schmetternden Tenor bewusst vorführt, fallen auch ein paar (vielleicht nur premieren- oder erkältungsbedingt) fehlende Töne auf, was aber nicht wirklich stört. Auch die übrige Besetzung trägt ihren Teil zu einer überzeugenden musikalischen Gesamtleistung bei. Marlene Lichtenberg wechselt mühelos zwischen der diabolisch auftrumpfenden Hexe Ježibaba im strengen Kostüm und der verführerisch aufgedonnerten fremden Fürstin, die den Prinzen vor den Augen seiner Braut zu verführen versucht. Mit seiner hochpräsenten Eloquenz ist Ki-Hyun Park der väterlich warnende Wassermann, auf dessen Rat Rusalka nicht hört. Robert Sellier ist ein wunderbar lyrischer Jägersmann, der obendrein zusammen mit dem Küchenjungen (Vanessa Waldhart) auch seine Kletterkünste unter Beweis stellen muss. Liudmila Lokaichuk, Yulia Sokolik und Regina Pätzer sind drei vokal luxuriöse und optisch hippe Elfen von heute beim Picknick im Freien. Dass die den musikalisch betörenden Reigen so ähnlich wie die Rheintöchter bei Wagner eröffnen, schärft das Ohr für die Nähe Dvořáks zum deutschen Großmeister, an den man sich vor allem beim Orchesterpart an diesem Abend oft erinnert fühlt. Am Pult steht erneut (wie schon beim „Maskenball“ zur Saisoneröffnung) José Miguel Esandi. Halle hat zwar seit einem Jahr eine offiziell bestallte GMD (Ariane Matiakh), aber die Französin verweigert sich nach wie vor dem heimischen Opernbetrieb. Dass ihr Vertrag das offensichtlich ermöglicht, bleibt unverständlich und gehört zu den Hallenser Merkwürdigkeiten der lokalen Kulturpolitik. So war „Rusalka“ für Esandi ein schöner Erfolg. Vom Premierenpublikum gab es ungeteilten Beifall.