Foto: Schauriger Tod eines Komponisten: Szene aus Marko Nikodijevics Kammeroper "Vivier" bei der Münchener Biennale. © Adrienne Meister
Text:Barbara Eckle, am 8. Mai 2014
Ein Komponist wird von einem Stricher mit orgiastischer Brutalität erstochen. Auf seinem Schreibtisch hinterlässt er ein Werk, das wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung genau den Hergang seines eigenen Todes schildert. Das ist ein gefundenes Fressen für einen Kriminalroman; oder eben für eine Oper. Und der Fundort ist hier tatsächlich die Realität – selten genug hält die Musikgeschichte selbst so reißerische Plots bereit, da mag man sich über die Aktualität dieser Kunstform streiten, wie man will. So bestätigt sich zur Eröffnung ihrer 14. Ausgabe, der letzten unter der künstlerischen Leitung Peter Ruzickas, die Münchener Biennale erneut und diesmal doch auf ganz besondere Wiese als Forum für neues Musiktheater.
Auf den serbischen Komponisten Marko Nikodijevic wirkten die mysteriöse Geschichte und die Musik des glücklosen Claude Vivier, der 1983 im Alter von nur 34 Jahren sein tragisches Ende fand, wie ein Magnet. Vivier ist in Nikodijevics Kammeroper „Vivier“ nicht nur als Protagonist szenisch präsent, sondern auch musikalisch, vor allem in Claudes Partie und in den atmosphärischen, ziellos schwebenden Zwischenmusiken, denen das Orchester des Staatstheaters Braunschweig unter der Leitung von Sebastian Beckedorf eine schöne Transparenz verleiht. Da beginnt allerdings schon ein gefährliches Verschwimmen der Grenze zwischen realer Vorlage und deren künstlerischer Verarbeitung. In Anlehnung an besagtes letztes Werk Viviers, in dem die Gefühle der Hauptfigur Claude in einer hohen Sopranpartie Ausdruck finden, ist Claude in Nikodijevics „Vivier“ für einen poetisch bis nervös kantilierenden Countertenor gesetzt. Die Folge: der verletzliche Claude (Tim Severloh) wirkt – scheinbar unabsichtlich – wie die sprichwörtliche „screaming queen“, was ihn momentweise der Lächerlichkeit preisgibt. Und von einem regelrechten Ausbund an Klischees an diesem Abend in der Muffathalle ist das leider nur das erste. Den ultraplakativen Kontrast zum sensiblen, Liebe suchenden Außenseiter in Lammfelljacke bildet die Stricher-Gruppe – mit Ghettoblaster auf der Schulter und entsprechend primitiver Körperhaltung zur besseren Erkennbarkeit (Inszenierung Lotte de Beer). Aggressive, „rappige“ Rhythmik kennzeichnet ihre Partien. Der eklatante und abrupte Stilbruch, der sich hier und andernorts innerhalb der Dialoge vollzieht, ist wohl intendiert, stellt in dieser Vordergründigkeit aber jeden inneren Zusammenhalt der Partitur und damit auch ihr vielbeschworenes Potential zur Transzendenz in Frage.
Verfremdete Walzermusik bringt der bärtige Tschaikowsky (Daniel Holzhauser) mit in die Gleichung ein, über dessen ebenfalls rätselhaften Tod Vivier in seinen letzten Jahren eine Oper plante. Anstelle einer dokumentarischen oder akkurat biographischen Dramaturgie hangeln sich Nikodijevic und sein Librettist Gunther Geltinger nicht weniger sklavisch an Schlüsselstationen und Schlüsselwerken in Viviers Leben und an Motiven der Homoerotik und des Rituals entlang. Viviers tragisches Leben bietet sich in der Tat hervorragend für tiefenpsychologische Deutungen an. So gerät man hier auch in keine Interpretationsnot, wenn Claude, der während seiner Jugend im Priesterseminar vor allem den Weg zur Musik fand, mit dem von Speeren durchbohrten Märtyrer Sebastian den Liebesakt in seinem Mordbett vollzieht mit den Worten: „Wie schön sind deine Wunden, Blut soll mich erheben, so tief sind deine Wunden, Schmerz will ich erstreben“.
Viviers Reise nach Fernost taucht die Bühne in tiefes Rot. Während ein Zeremonienmeister mit kleinen Sumo-Adjutanten Claude ritualhaft in einen Kreis von leuchtenden Speeren einschließt, webt sich fernöstlich anklingendes Holzschlagwerk in die Partitur – und das sind dann Momente so plump, dass Gott erbarm. Dazwischen immer wieder Claude allein im lyrischen Niemandsland zwischen Leben, Tod und Kunst: frontales Stehtheater in Blau. So wie das Licht durch alle Farben des Regenbogens wandert, bedient auch der jeweilige Musikstil eine breite Palette, bis er im violetten Showdown der Mordszene in einer musicalartigen rhythmischen Energiebombe kulminiert. Doch selbst diese verstehen die lethargisch wie durch ein Aquarium sich bewegenden Darsteller auf der Bühne zu entschärfen. Eines jedenfalls hat die Uraufführung von Nikodijevics Kammeroper „Vivier“ bewiesen: Ein großartiger Stoff in einer risikoarmen Leere-Bühne-Ästhetik allein ist kein Garant für Erfolg. Und der war, dem müden Applaus nach zu urteilen, überschaubar.