Foto: Sarahs Seele und Sarahs Körper im Konflikt: Die Sopranistin Tehila Nini Goldstein und die Tänzerin Evgenia Itkina in Sarah Nemtsovs Musiktheater "L'Absence". © Regine Körner
Text:Detlef Brandenburg, am 6. Mai 2012
Wo in Sarah Nemtsovs neuem Musiktheater „L’Absence“ wäre wohl der ferne Klang zu finden? So nämlich, _Der ferne Klang_, lautet das Motto der aktuellen Münchener Biennale, das mit dieser Uraufführung eröffnet wurde. Dass Peter Ruzicka auch in der 13. und damit der vorletzten noch von ihm geleiteten Ausgabe dieses Festivals des neuen Musiktheaters auf solchen übergreifenden Leitsätzen besteht, ist heutzutage ja fast schon ein Statement: geprägt vom Werkbegriff und vom dramaturgischen Konzeptdenken, und damit ein entschiedener Kontrapunkt zur angesagten Betriebsamkeit des Partizipierens, Projektemachens und On-location-Produzierens mit ihren dramaturgisch offenen, aus dem Machen herauswachsenden Formen und Verfahrensweisen. Diesen Kontrast führt die 13. Biennale selbst auf mehreren Foren vor Augen: in der _Nucleus_-Reihe beispielsweise, in der sechs sehr verschieden geprägte Komponisten und Klangperformer in spontanen, knappen Arbeiten die Frage nach dem Kern des Musikdramatischen stellen. Oder mit dem Musiktheater „AndersArtig“, das 100 Schüler unter Anleitung der Künstlergruppe _Musik zum Anfassen_ kreiert haben. Oder auch im Symposium _Neues Musiktheater – Neue Orte – Neue Vermittlungsformen_, bei dem partizipative, improvisatorische oder ortsbezogene Produktionsformen vorgestellt und diskutiert wurden.
Bei den großen drei Uraufführungen jedoch stehen _das Werk_ im Mittelpunkt und das Motto zur Diskussion. Was also ist _Der ferne Klang_ in der ersten großen Oper der 1980 in Oldenburg geborenen, unter anderem von Johannes Schöllhorn (Hannover) und Walter Zimmermann (Berlin) geprägten Komponistin? Nun – tatsächlich ist ja unverkennbar, dass diese stark durch Farbe und Aura wirkende Musik aus einer nicht geheuren, gelegentlich verdrängten und doch immer wieder beklemmend aktuellen Ferne in unsere Gegenwart herüberklingt. Denn Nemtsov setzt sich unter Verwendung von Texten aus Edmond Jabès’ 1963 erschienenem „Buch der Fragen“ mit dem Holocaust auseinander. Sie übernimmt von Jabès neben einigen Nebenmotiven vor allem die Geschichte des Liebespaares Sarah und Yukel, die beide dem Mordregime entkommen konnten. Yukel vermochte sich offenbar dem Zugriff der Nazis zu entziehen, seine geliebte Sarah aber wurde deportiert, überlebte das Lager, beider Familien wurden ermordet. Nach dem Ende des Naziregimes sucht Yukel nach seiner Sarah, doch als er sie findet, steht er einer Wahnsinnigen gegenüber. Ihre Seele hat den Körper verlassen, Yukel scheint dem Selbstmord entgegen zu treiben. – Die, die entkommen sind, sind dennoch nicht davongekommen, weil der Terror fortwirkt und die Seelen derer zerstört, die ihre Körper zu retten vermochten: Nicht nur in dieser indirekten Perspektive auf den Holocaust erinnert Sarah Nemtsovs Oper an eine Sternstunde der Biennale: die Uraufführung von Chaya Czernowins Musiktheater „Pnima… Ins Innere“ im Jahr 2000, in dem die Schrecken der Vernichtungslager einem Kind in Gestalt eines traumatisierten alten Mannes begegnen.
Nemtsov strukturiert ihre Musik nach komplizierten Parametern, unter extremer struktureller Verfremdung jüdischer Tanzformen und Vortragsformen der Thora in der Synagoge (sog. „Kantillationen“). Doch tatsächlich ist es vor allem der Klang, der an dieser Musik fasziniert: ein Klang, der durch zahlreiche Taktwechsel in ein gleichsam untergründiges Pulsieren gebracht, durch Vierteltonreibungen und die Farben von Zymbal oder Akkordeon apart abgetönt, durch ungewöhnliche Artikulationsweisen und komplexe binnendynamische Abstufungen ausgearbeitet wird. Das verleiht dieser Musik faszinierende Momente – nur leider keine Dramaturgie. Trotz der konventionell anmutenden Einteilung in fünf Akte wirkt sie wie ein vielfarbiges Klangmosaik, das man so oder auch anders zusammensetzen könnte. Und da Wort und Musik einander offenbar gewollt disparat gegenüberstehen, wirken die in ausgedehnter Wörtlichkeit übernommenen Texte oft nur redselig, aber nicht musiktheatral motiviert.
In dieser Hinsicht klaffen wahrlich Welten zwischen Nemtsovs tief bewegter Bemühtheit und der konzisen Intensität ihrer ebenfalls jüdischen Kollegin Czernowin. Und auch in der Behandlung der Gesangsstimmen wirkt Nemtsov konventioneller. Wobei allerdings die Kantilenen der Sarah große und sehr individuelle musikalische Intensität haben, während die Aufspaltung in eine beseelte Sarah-Sängerin und eine entseelte Sarah-Tänzerin wenig theatralen Gewinn bringt. Die Diskurse des in das Buch hineinführenden Erzählers und der fünf Rabbiner laden die Liebesgeschichte ziemlich ausgiebig mit Aspekten jüdischer Religiosität und Lebensphilosophie auf, wirken in ihrer Langatmigkeit aber oft auch redundant; und der die Handlung in Staunen und Barmen verfolgende, dabei meist stumme Leser bleibt entbehrlich.
Es wäre unter solchen Voraussetzungen an der Inszenierung, die Stärken des Werkes zu forcieren und die Schwächen zu umspielen. Leider macht es Yasmin Solfaghari in der Muffathalle genau umgekehrt: Oft verdoppelt sie die Redseligkeiten des Librettos in platten szenischen Entsprechungen, stets geschäftig, selten aussagekräftig. Das Bühnenbild von Etienne Pluss mit seiner rechteckigen Lichtlinien-Geometrie, in deren Mitte sich halbtransparente Wände um eine zentrale Achse drehen wie die Seiten eines Buches: es hat durchaus seine Attraktivität. Doch Solfgharis Figurenführung – in vordergründig-realistischen Klischee-Kostümen von Florence von Gerkan, mit kickbeinig aus der Hüfte wippenden Rabbinern und seltsamen Statisten-Aufmärschen – findet kaum intensive Momente. Und auch der Dirigent Rüdiger Bohn geht eher laut als subtil zu Werke, was sicher auch an dem zwar sehr engagiert spielenden, aber mit solcher Musik unerfahrenen Bundesjugendorchester liegt, das sich wacker schlägt, aber mit der hochgradig differenzierten Dynamik vieler Passagen überfordert wirkt.
Große Faszinationskraft geht allerdings von der Sängerin der Sarah aus: Tehila Nini Goldstein gibt der Partie mit ihrem durch alle Register hindurch leuchtend klar fokussierten Sopran hohe lyrische Intensität, während der stabile und recht breite, an sich ebenfalls ausdrucksvolle Bariton von Assaf Levitin für die Partie des Yukel zu robust wirkt. Der Altus Bernhard Landauer gibt dem Erzähler im Wechsel der Register rhetorische Intensität, das Quintett der Rabbiner klingt attraktiv kultiviert, die übrigen Partien sind auf gutem Niveau besetzt. Und – auch das soll in dieser skeptischen Würdigung festgehalten werden: Diejenigen, die beim _nachgefragt_-Publikumsgespräch nach der Aufführung die Möglichkeit wahrnahmen, Komponistin und Dirigent nach ihren Intentionen zu befragen, brachten dieser ersten Produktion der Biennale 2012 respektvolle Anerkennung entgegen.