Foto: Szene aus "And now Hanau", einer Koproduktion der Ruhrfestspiele Recklinghausen mit dem Theater Münster und dem Theater Oberhausen © Bettina Stöß
Text:Martina Jacobi, am 13. Mai 2023
Die Uraufführung von Tuğsal Moğuls Recherchestück „And now Hanau“ bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen arbeitet auf, wie institutioneller Rassismus zur Ermordung neun junger Hanauer:innen beigetragen hat. Und fragt danach, wie wir uns als Menschen gegenseitig wahrnehmen.
„Mind. 10“ hat der Täter auf den Zettel mit der Karte geschrieben, mit der er seinen Anschlag geplant hat. Auf der Karte sind Orte eingezeichnet, an denen sich aus Sicht des Täters Menschen aufhalten, die nicht „deutsch“ aussehen. Nach neun Morden am 19. Februar 2020 an den Hanauer Bürger:innen Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Kaloyan Velkov und einem weiteren jungen Mann, dessen Namen auf Wunsch der Angehörigen ungenannt bleibt, tötet er zuhause erst seine Mutter und dann sich selbst. Tuğsal Moğuls Titel „And now Hanau“, nun uraufgeführt bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen und koproduziert vom Theater Oberhausen und dem Theater Münster, klingt wie die bitterböse Präsentation einer Stadt, die sich in die Liste der Städte mit rassistischen Anschlägen in Deutschland einreihen muss: Mölln, Solingen, München, Halle, … als wolle er fragen: Was kommt als nächstes?
Der Abend beginnt in schnellem Tempo, hat einen Rhythmus, der dem Publikum den rassistischen Anschlag in Hanau in Form einer detailreichen Rekonstruktion in 1,5 Stunden in die Köpfe hämmert. Dabei springt Moğuls Inszenierung zwischen der sekundengenauen Tatschilderung der Morde in Hanau, Heumarkt und Kurt-Schumacher-Platz, für die der Täter nur sechs Minuten gebraucht hat, und einer Rekonstruktion der (nicht) folgenden Verfahren und Aufarbeitung. Durch alles zieht sich ein roter Faden: das (menschliche) Versagen deutscher Behörden.
Unzählige Versagensmomente
Ein Bildschirm (Bühne, Kostüme & Video: Marcin Wierzchowski) hilft der Dokumentation durch große Fotos der Opfer und die eingeblendeten Uhrzeiten des Tatgeschehens. Auf einer animierten Karte verfolgt das Publikum mit, wie Vili Viorel Păun den Täter im Auto verfolgt, währenddessen er mehrfach vergeblich versucht hat, unter 110 jemanden zu erreichen. Die Anrufe sind heute nur dokumentiert, weil Vilis Vater selbst das Handy untersucht hat. Unzählige Versagens-Momente der Polizei und bei der Betreuung der Opferfamilien werden dem Publikum dargestellt; vom SEK, dass das Auto der Familie eines Opfers im Auto umstellt – bis ein Polizist erklärt, dass das die Angehörigen sind – bis hin zum Einsatzhubschrauber, der ziellos über Hanau kreist, weil ihm keine genaue Adresse durchgesagt wird.
Die Folge verfehlter Politik, gesellschaftlichen und behördlichen Versagens wird durch das Stück an einem sie stellvertretenden Ort präsentiert: im großen Sitzungssaal des Rathauses in Recklinghausen. Als Zuschauer:in ist man wortwörtlich betroffen. Zu Beginn ist die Bühne, um die das Publikum in U-Form herum sitzt, beinahe leer. Die Schauspieler:innen tragen dann erst nach und nach Requisiten auf die Bühne und bauen alles selber auf – so wie die Opferfamilien und die „Initiative 19. Februar Hanau“ selber aktiv werden mussten, damit der Tathergang überhaupt aufgearbeitet wurde und heute so genau nachvollziehbar ist.
Dem unschuldigen Wörtchen „hätte“ brüllt in Moğuls Inszenierung (Dramaturgie: Victoria Weich, Saskia Zinsser-Krys) die Antwort „ABER IST NICHT PASSIERT“ entgegen. Schauspieler Tim Weckenbrock zählt die neun Sekunden runter, die bei einem unverschlossenen Notausgang der Arena-Bar für eine Flucht gereicht hätten und die anderen Schauspieler:innen Alaaeldin Dyab, Agnes Lampkin und Regina Leenders rennen aus dem Sitzungssaal des Rathauses in den Vorraum. Bevor Weckenbrock fertig gezählt hat, sind sie draußen.
Aufklärungs- und Erinnerungsarbeit
Betroffenes Schweigen füllt am Ende des Sitzungssaal. Geschlossen erhebt sich das Publikum und die Bühne sowie der bittere Beifall gehören nicht allein den großartigen Schauspieler:innen, sondern vor allem den Angehörigen der Opfer, die mit im Publikum sitzen und denen rote Rosen gereicht werden. Moğuls Stück leistet Aufklärungs- und Erinnerungsarbeit, sein dichter Text bündelt die Folgen des Anschlags auf die Tatnacht und die wenigen Minuten, die das Leben vieler Menschen beendet oder verändert hat.
Ganz groß steht die Frage im Raum, als was wir Menschen uns gegenseitig eigentlich wahrnehmen. Tut uns eine Verletzung nicht gleich weh? Bluten wir nicht alle gleich? Da gab es keine Angst vor dem Täter, sondern vor physischen, äußeren Merkmalen und Namen. Namen, die durch die Rechtschreibkorrektur rot unterstrichen werden und wegen denen Menschen Dolmetscher zur Seite gestellt werden, obwohl sie in Deutschland zur Schule gegangen sind. Als Schlussfolgerung bleibt die Aussage der Sachverständigen Heike Kleffner in einer Sitzung des Untersuchungsausschusses (UNA), die das polizeiliche Versagen auf institutionellen Rassismus zurückführt, hier und jetzt in Deutschland.