Alle ausgewählten Musikstücke waren in ihrer Entstehungszeit eine Rebellion gegen Herkömmliches. Strawinskys „Le sacre du Printemps” für die Ballets Russes unter Diaghelew führte 1907 zum Skandal und war in damaliger Zeit ein Misserfolg. Heute gilt das Stück als Durchbruch der Moderne in der Musik und wurde von vielen namhaften Choreographen interpretiert. Der andere russische Komponist dieses Tanzabends, Dimitri Schostakowitsch, stand in der Sowjetunion unter permanentem Verfolgungsdruck durch die Stalin’sche Inquisition, die in den eigenen Reihen das größte Blutbad anrichtete. Und Steve Reich ist der musikalische Rebell des 21. Jahrhunderts.
Schostakowitschs Ballettmusik ist ein Zweiteiler (1962), hier ergänzt um Musik aus dem Film über Majakowski (1955). Der Titel des Tanzstücks lautet „Euer Traum“. Jörg Mannes erzählt die Biografie des Literaten Wladimir Majakowski, der mit seinen Gedichten in der Oktoberrevolution bekannt wurde, dann zum Held der Sowjetunion stilisiert wurde, jedoch immer an (Selbst-)Zweifeln litt und sich am Ende suizidierte. Daran änderte auch die Menage à Trois mit der Frau seines Verlegers nichts, im Gegenteil.
Hier tragen die Tänzer und Tänzerinnen die gleichen hellgrauen Anzüge, alle anderen Kleidungsstücke sind von symbolischer Bedeutung. Das weiße Oberhemd zeichnet Laura Avila als liebende Frau zwischen ihrem Mann (getanzt von Sven Krautwurst) und dem Revolutionsdichter (getanzt von Patrick Cabrera Touman) aus. Wenn Majakowski ganz am Ende ein weißes Hemd anzieht, dann hat dieses einen großen Blutfleck. Die Revolution (im weißen Anzug Julie de Meulemeester) hat ihn umgebracht.
Tarek Assam blickt auf die Jetztzeit, er wählte die minimalistische Musik von Steve Reich (1. Satz aus „You Are (Variations)“ von 2006), die mit ihren Klangteppichen wohltuende Ruhe verbreitet, mit ihren rhythmischen Spitzen aber auch wachrüttelt. Assams Rebellen sind von Heute, die jungen Menschen, die gegen die Europäische Notenbank protestieren und für Klimaschutz auf die Straße gehen. Sie geben sich lässig und doch entschieden, tragen lockere Street Wear mit Stumpfmützen und Handschuhen, was an Break Dancer erinnert. Es sind die kleinen, sich ständig wiederholenden, parallelen Bewegungen, die faszinieren. Bewegungsabläufe werden variiert, kleine Gruppen bilden sich, wechseln schnell und fließend. Am Ende steht die Hoffnung auf Zukunft im Symbol kleiner Pflanzen. Assams Tanzstück ist das kürzeste, wirkt optisch und inhaltlich wie ein Scharnier zwischen den beiden anderen.
Asun Noales löst sich in ihrer Version von „Le Sacre du Printemps“ von der ursprünglichen Geschichte des rituellen Opfertanzes, bei dem eine junge Frau von alten Männern ausgewählt wird und den Opfertod sterben muss. Ihr Tanzstil ist sehr körperlich und fordernd, der ständige Bewegungsfluss wirkt geradezu organisch, passend zum Symbol des erwachenden Frühlings. Bei Noales strotzen alle Beteiligten von jugendlicher Kraft und Dynamik, nur in Unterwäsche gekleidet stampfen, drehen und winden sie sich bis zur Erschöpfung. Jeder will mal ausbrechen, sich behaupten, was Neues und Eigenes machen, subversiv sein. Noales zitiert berühmte Choreographie-Vorbilder eher spielerisch und ironisch, letztlich wird niemand geopfert. Am Ende gehen die Beteiligten ihrer Wege.
Die visuelle Klammer des Abends bilden der Bühnenraum von Colin Walker und die zurückhaltenden, dennoch deutlichen Kostüme von Angelika Lenz. Beim ersten Stück (Mannes) ist die breite, dreistufige Treppe mit Bürostühlen auf der oberen Reihe sehr präsent und wird auch bespielt. Oben tagt etwa das Politbüro und verbreitet eine drohende Atmosphäre. Im zweiten Stück (Assam) ist die Treppe zusammengefahren, wirkt nur noch als Hintergrund für die Aktionen. Im dritten Teil (Noales) ist nur noch die obere Reihe vorhanden, die Bürostühle sind verziert mit Zweigen, das Ganze entschwebt bis zum Ende des Frühlingsreigens ganz nach oben. Einzig das Licht (Carsten Wank) und sich bewegende Körper stehen im Zentrum.
Es ist ein faszinierender Tanzabend voller Experimentierfreude, Vorstellungskraft und Dramatik, der uns in die Vergangenheit blicken lässt und doch die Rebellen der Gegenwart würdigt.