Foto: Die Rekonstruktion von Mary Wigman "Le Sacre du Printemps" in Osnabrück © Bettina Stöss
Text:Bettina Weber, am 10. November 2013
Beinahe jeder Text, der „Le Sacre du Printemps“ zum Thema macht, beginnt mit der Schockwirkung der Pariser Uraufführung vor hundert Jahren. Um den Skandal kommt man schwerlich herum. Derweil stellt das Werk aus künstlerischer Sicht Hürden: Nach den zahlreichen, vielfach bahnbrechenden Interpretationen der großen Choreographen, die sich im Laufe der Zeit mit dem Werk befasst haben, ist es zumal in diesem Jubeljahr keine leichte Aufgabe, dem Stück gegenüber neu Position zu beziehen. Im Rahmen der Koproduktion der Tanztheater in Osnabrück, Bielefeld und München (denn auch das Bayerische Staatsballett zeigt die Rekonstruktion im nächsten Jahr) hat man einen historischen und dennoch innovativen Zugang gefunden: Keine Neuproduktion, sondern eine Reproduktion der 1957 uraufgeführten „Sacre“-Choreographie von Mary Wigman steht im Zentrum des Abends. Einzig mit Skizzen und Notizen Wigmans, mit Fotos und Erinnerungen damals beteiligter Tänzerinnen ausgestattet, hat das Team um die Künstlerische Leiterin Henrietta Horn in einem aufwendigen Rekonstruktionsprozess die Inszenierung für die Bühne „zurück“ erarbeitet.
Die Wigman-Choreographie ist nun auch die präsenteste und stärkste des Abends und als letzter Teil des Dreierabends zweifellos künstlerischer Höhepunkt (Mauro de Candia und Gregor Zöllig, die Tanzchefs aus Osnabrück und Bielefeld, ergänzen den Abend mit eigenen Uraufführungen). Die Komposition Strawinskys, deren Herausforderungen das Osnabrücker Symphonieorchester unter der musikalischen Leitung von Daniel Inbak sich offenbar mühelos stellt, hat noch heute einen verstörenden Charakter, der auf wilde Art das Innerste des Menschen anzurühren vermag. Und auch wenn das Stück heute keinen Skandal mehr auslösen kann: Die rekonstruierte Sacre-Version von 1957 fordert und packt die Zuschauer. Die Bilder und Bewegungsmuster nehmen das Publikum unmittelbar mit auf eine Reise in die Vergangenheit, während zugleich der Eindruck entsteht, dass Wigman mit ihren Ideen etwas Zeitloses geschaffen hat. Geradezu entschleunigt wirkt das Tempo auf das heutige Auge, während die pulsierende Synchronität, die im chorischen Ritual zum wichtigsten Paradigma wird, einen eigenen Sog entwickelt. Dominant sind auch die langen Kostüme, die Ausstatter Alfred Peter den Originalen aus den Fünfziger Jahren nachempfunden hat, die aber durch futuristische Schnitte angemessen modernisiert wirken. Hsiao-Ting Liao, die im symbolisch blutroten Kleid in der Osnabrücker Premiere die Erwählte tanzt (die Besetzung wechselt), zentriert mit ungeheurer darstellerischer Kraft die Aufmerksamkeit auf das Opfer und tanzt die Figur mit großer Präzision und persönlicher Haltung. Nun ist die Erwählte bei Wigman keine, die sich in Ekstase zu Tode tanzt. Die Figur wurde auch hier mit nackter Angst ausgestattet, doch die Verzeiflung endet nicht im ruhelosen, wilden Wahn, sondern vielmehr in einem beinahe stolzen Ausdruck. Das Opfer erzeugt eher hier etwas Standbildhaftes, so als habe Wigman als Bildhauerin agiert.
Zweifellos ist hier ein Stück Tanzgeschichte vitalisiert geworden, das diesen Abend zu einem der wichtigsten des Sacre-Jahres 2013 macht. Ein wuchtige und ehrgeizige Aufgabe, die die beiden Häuser und das Rekonstruktionsteam bravourös gemeistert haben. Mauro de Candia und Gregor Zöllig (ehemals Ballettdirektor in Osnabrück) machen für ihre eigenen Stücke die Wigman-Choreographie in abstrakter Form zum Referendum, gehen jedoch eigenen thematischen Wegen nach. Licht und Raum sind die inhaltlichen Ausgangspunkte von Mauro de Candias „Fiat Lux“, in der er zur tragend-dramatischen Musik von Arvo Pärt fließende, architektonische Tableaus auf die Bühne zeichnet. Obgleich sich zwischen diesen Formen und den chorischen Kreisen der Wigman-Choreographie durchaus Verbindungen herstellen lassen, stellen sie doch einen eher milden und zögerlichen Einstieg in den Abend dar, der in der Trilogie trotz ästhetischer Anziehungskraft leider etwas farblos bleibt. Zölligs „Rauschen“ drückt im Anschluss schon mehr aus; hastige, fast schneegestöberartige Bilder lassen auf der Bühne ein vermeintliches Chaos entstehen. Die Interpretation thematisiert die Hektik des vorbeirauschenden Lebens und wie es ein Rauschen im Kopf der Menschen auslösen kann, fragt außerdem danach, was Stille bedeuten kann. Sie vermittelt ausdrucksstarke Bilder in einer konsequenten Dramaturgie, die nach etwas zögerlichen Anfängen eine eigene, fesselnde Dynamik entwickeln.
Zu begrüßen ist vor allem die konzeptionelle Herangehensweise der beiden Choreographen, die sich der großen Rekonstruktion mit Respekt annähern und diese klug vorbereiten, ohne ihre persönliche Handschrift aus dem Blick zu verlieren. Der Dreierabend vollzieht sich so mit einer klaren Steigerung, er funktioniert im Arrangement, in das sich ganz offensichtlich sämtliche Beteiligte mit voller Kraft und Leidenschaft gestürzt haben.