Foto: Szene aus ”RCE #RemoteCodeExecution” © Sandra Then
Text:Martina Jacobi, am 18. Mai 2024
„RCE #RemoteCodeExecution“ ist Sibylle Bergs zweiter Roman einer dystopischen Trilogie. Regisseur Wilke Weermann schafft dafür im kleinen Haus am Theater Münster ein religiöses Setting, in dem das Geld Gott ist.
Aus der Ferne (remote) auf die mächtigen Computersysteme zugreifen und über diese Befehle ausführen (code execution), um die digital gesteuerte Welt hochgehen zu lassen. Das ist, was eine kleine Gruppe junger Hacker:innen in Sibylle Bergs zweitem Roman „RCE #RemoteCodeExecution“ einer Trilogie tun möchte. Die jungen Menschen werden im ersten Romanteil „GRM – Brainfuck“ wegen ihres unangepassten Verhaltens an die Gesellschaft schon als Teenager:innen zu Außenseiter:innen. Sie wachsen inmitten von Sexismus, Klassismus und Hierarchien im sogenannten fortgeschrittenen Zeitalter auf. Sie sind wütend auf eine sie vernachlässigende Gesellschaft, von der sie nicht mal wissen, wer das ist, diese Gesellschaft. Alles ist digital optimiert, in der Realität aber entmenschlicht.
Unter einer retournierten Jesus-Figur in einem Warenlager (Bühne und Kostüme: Johanna Stenzel) lässt Regisseur Wilke Weermann die Gruppe ihre Codes in die Tastatur hämmern. Geld ist Gott. Alles ist voller Retouren, nichts mehr auf der Versandseite. Das Wachstum braucht die Menschen nicht mehr. Nur noch Finanzprodukte zählen, einige wenige Finanzhaie beherrschen den Markt. Viele können sich keine Krankenversicherung mehr leisten, also sehen wir, wie sich ein Bänker – der „beherzte Mensch“ – mit Leistenbruch per Bot-Anleitung selber lokal betäubt und operiert. Keine persönlichen Kontakte mehr, die Menschen machen quasi per Ikea-Bauplan alles selber. In dieser Dystopie sind sie isoliert und allein, sie haben keinen Sinn mehr für „Naturdinge“.
Per Hacken zur Revolution
Die entwickelte RCE-App soll die Menschheit schließlich retten, über die die Hacker:innen-Gruppe Inhalte der von ihnen gehackten EU-Parlamentssitzungen, Banksystemen und Superreichen-Meetings auf alle möglichen Endgeräte verbreiten will. Das Ziel: zur Revolution anstiften. Währenddessen sitzt im Offshore-Vatikanstädtchen der Papst mit den wenigen letzten Einflussreichen in vertrauter Runde und huldigt der weiteren Marktoptimierung. Wie kann das Bargeld endgültig abgeschafft werden? „Ich segne die Krise, lasst sie uns als Chance begreifen.“
Wilke Weermann verdeutlicht Sibylle Bergs informationsgeladene Textdichte auf der Bühne, lässt das Ensemble gut choreografiert – jede Bewegung sitzt im Detail – und mit Tempo vortragen. Sie haben dabei körper-deformierende oder -optimierende Kostüme an, sind Muskelpakete, oder normabweichende Gestalten, Produkte und Überreste des fortgeschrittenen Zeitalters. Die Hacker:innen, Ben (Artur Spannagel), Maggy (Ansgar Sauren), Rachel (Rose Lohmann), Pjotr (Ilja Harjes), Karen (Pascal Riedel) und Don (Agnes Lampkin) bleiben der Welt völlig reizüberflutet fern. Auch zum Publikum bleiben sie in ihrer Persönlichkeit leider distanziert. Ihre Ängste und Sorgen dringen nicht durch. Die Inszenierung wirkt in ihrer Gesamtheit eher als Persiflage auf eine (unsere) weltfremde Gesellschaft.
Hommage an die Nerds
Über allem schwebt dabei eine schon in Sibylle Bergs Büchern durchscheinende Hommage an die „Nerds“ – Expert:innen auf verschiedenen Fachgebieten. An die, die sich nicht nur stumpf durch PR (wie Propaganda) leiten lassen. Sie stechen in ihrer Unangepasstheit heraus, hinterfragen und lassen sich noch von dieser Menschlichkeit leiten, auch wenn sie vielleicht gar nicht mehr so genau wissen, was das eigentlich ist. Aus dem Untergrund kommend – hier steigen sie aus dem Gulli – kämpfen sie gegen den gleichförmigen Mainstream. „DON’T CRY WORK“ steht als leuchtender Schriftzug den gesamten Abend über allem. „DON’T CRY THINK“ wäre vielleicht eine alternative Lebensform in einer Welt, der wir gar nicht mal so langsam abhanden zu kommen scheinen.