Foto: "Diodati. Unendlich" am Theater Basel © Sandra Then
Text:Georg Rudiger, am 23. Februar 2019
Eine rasende Hammond Orgel trifft auf ein hyperaktives Schlagzeug und einen pulsierenden E-Bass. Für das Trio Steamboat Switzerland hat Michael Wertmüller schon viele Stücke geschrieben und dabei die Grenzen zwischen Neuer Musik, Jazz und Rock aufgelöst. In seiner Oper „Diodati. Unendlich“ (Libretto: Dea Loher), die das Theater Basel in Auftrag gegeben hat, ergänzt er das Trio mit einer E-Gitarre (Yaron Deutsch) und platziert es in den Orchestergraben, um gemeinsam mit dem Sinfonieorchester Basel diese rhythmische Energie auf die Bühne und in den Zuschauerraum zu schicken. Die Musik hat fast immer einen hohen Puls. Sie ist dauererregt, arbeitet mit der Schichtung von verschiedenen Metren und Rhythmen und führt die beteiligten Musiker technisch in Grenzbereiche. Umso erstaunlicher, wie souverän Dirigent Titus Engel, der am Haus schon Karlheinz Stockhausens „Donnerstag“ aus „Licht“ unaufgeregt über die Bühne brachte, sich durch diese hochkomplexe Partitur bewegt. Und mit welcher Präzision alle Akteure diese wilden, rhythmisch verschachtelten Eruptionen zum Klingen bringen.
Dea Lohers Libretto berichtet vom legendären Besuch englischer Literaten im Jahr 1816 in der Villa Diodati am Genfer See. Die illustre Runde um Lord Byron berauscht sich an Opium und an den Gesprächen. Wegen des schlechten Wetters bleiben sie im Haus, debattieren über künstliches Leben und erzählen sich Schauergeschichten. In der Schweizer Idylle entstehen in diesem Sommer Mary Godwins Roman „Frankenstein“ und „Der Vampyr“, geschrieben von Byrons Leibarzt John Polidori. Loher verschränkt in ihrer Vorlage diesen historischen Schauplatz mit dem CERN im Kanton Genf, wo im 27 Kilometer langen Teilchenbeschleuniger Grundlagenforschung betrieben wird. In ihrer Inszenierung führt Regisseurin Lydia Steier beide Ebenen zusammen. Flurin Borg Madsen bringt am Theater Basel ein Labor auf die Bühne, in dessen Mitte ein historischer Raum der Villa Diodati nachgebaut ist. Hier fahren Wissenschaftler in Schutzanzügen zu den ersten Schlagzeugimpulsen die leblosen Literaten auf Sackkarren hinein und reanimieren sie (Kostüme: Ursula Kudrna). Eigentlich werden die Figuren aber durch Michael Wertmüllers Musik zum Leben erweckt. Dabei arbeitet der Komponist mit schnellen Schnitten, die oft vom Schlagzeug geschärft werden. Die Pausen sind kurz, die Reizdichte ist hoch, alles passiert gleichzeitig! Einen größeren Spannungsbogen baut Wertmüller aber nicht auf. Er setzt auf einzelne Bausteine, die für sich stehen und durchaus unterschiedlich gestaltet sind. Kristina Stanek singt als Mary Godwin in großen melodischen, ganz opernhaft gezogenen Linien von ihrem verstorbenen Kind; die von Lord Byron schwangere Claire Clairmont (bis in stratosphärische Höhen glasklar: Sara Hershkowitz) leckt zur hochgepeitschten Musik seinen Schritt, ehe Byron von den Wissenschaftlern ein blinkendes Gerät um die Hüfte geschnallt bekommt, das ihn zusätzlich stimuliert. Mit atemberaubender Geschwindigkeit folgt Szene auf Szene. Rolf Romei als Mary Godwins Freund Percy Bysshe-Shelley mit Mittelscheitel und Nickelbrille singt strahlende Spitzentöne dazu. Seth Carico ist mit seinem mächtigen Bassbariton ein markanter Leibarzt Polidori, der im zweiten Teil in Strapsen Lord Byron seine Liebe erklärt.
Im exquisiten Solistenensemble ist Holger Falk als anarchistischer Lebemann George Gordon Noel Lord Byron das Kraftzentrum. „Das große Ziel des Lebens ist Empfinden. Zu spüren, dass wir existieren“, formuliert er im zweiten Teil in einer der wenigen ruhigeren Szene sein Credo im Sprechgesang. Das sexuelle Verhältnis mit seiner Halbschwester Augusta Leigh (koloraturengeschärft: Samantha Gaul) zelebriert dieser Byron genauso selbstverständlich, wie er Orangen an seiner nackten Brust reibt. Rausch und Ekstase als Kern des Lebens? Einzelne Puzzleteile entfalten an diesem ultrahocherhitzten Basler Musiktheaterabend große Theatralität, wenn sich beispielsweise Schlagzeuger Lucas Niggli und Sara Hershkowitz als hochschwangere, in Wehen zuckende Claire Clairmont ein spektakuläres Schlagzeug-Koloratur-Battle liefern oder wenn das wiederbelebte Kind unter großem Pathos als Engel mit dunklen Flügeln von Mary Godwins OP-Tisch aufersteht. Eine Verbindung zwischen all den Elementen, die wie im Teilchenbeschleuniger umherschießen, gelingt an diesem Abend nicht. Aber vielleicht ist das auch zu konservativ gedacht für diesen herausfordernden Musiktheaterabend.