Die Turbine rotiert
Aber es beginnt nicht. Es wird weiter musiziert – jetzt ohne lange Hosen und mit Knieschonern – und zwar auf so hohem Niveau, dass hier die Solist:innen genannt werden müssen: Sebastian Berweck an der Live-Elektronik, Laurent Bruttin an den Klarinetten, Valeria Kafelnikov an der Harfe, Susanne Peters an den Flöten, dazu der wirklich überwältigende Perkussionist Jonathan Shapiro. Ihre Instrumente werden aufgebaut und sie spielen für uns starke Musik, der man gut zuhören kann, rhythmisch akzentuiert, voll rauer, schorfiger Klangfarben, aus denen die wie nebenbei gehandhabten Gonge unterschiedlicher Größe fast als Tonidylle herausstechen. Dazu werden mit abstrakten Projektionen und dem Riesentuch Bilder erzeugt, vom funkelnden Wasserfall bis hin zur Illusion der Rotation der riesigen, alten unbeweglichen Siemens-Turbine in der Hallenmitte. Aber Theater?
Wo ist die Interaktion?
„Solominiaturen und Ensemblestücke (…) verhandeln komplexe Zustände von Gemeinschaft, Vereinzelung und Kontaktlosigkeit“, heißt es im Vorabtext der Ruhrtriennale. Das mag in der Musik angelegt sein. Aber die Inszenierung von Heinrich Horwitz und die Videos von Rosa Wernecke tragen es nicht an das Publikum heran, beschränken sich darauf, den bei der Triennale oft fantasievoll erkundeten Raum der Turbinenhalle neu zu erforschen und die Ergebnisse dieses Prozesses vorzuzeigen. Was ein sehr kleiner, ein wenig verbrauchter und vor allem sehr schwer teilbarer gemeinsamer Nenner ist. Darüber hinaus spricht das Programmheft von einer „humorvollen“ Besetzung des Raumes, vom „Haus als trans*Körper“, von „Anarchitektur“, von Kolonialismus, von viel Bedeutendem. Der von Regisseur:in Horwitz verfasste, von den beiden Musikerinnen recht ausdrucksarm gesprochene Prolog reißt vor dem Eintritt in die Halle einige dieser Themen an, bis hin zu einer „queeren Revolution“. Sie kommen jedoch außerhalb der Musik in dieser Uraufführung sämtlich nicht vor. Es gibt schlicht keine Interaktion, weder auf der Bühne (zumindest nicht wahrnehmbar) noch zwischen Performer:innen und Publikum.
Die Ideen haben die Köpfe nicht verlassen, die wenigen fast schüchtern eingesetzten Zeichen und Choreografien laufen ins Leere. Als Zuschauer fühle ich mich nicht gemeint, eher geduldet. Ich soll wissen, man teilt mir aber nichts mit. Obwohl es schön ist, dass es am Ende aus der Halle hinausgeht und Sebastian Berweck und Jonathan Shapiro noch einmal hinreißend miteinander musizieren, als hätte ihnen Sarah Nemtsov einen einzigartig strahlenden Rahmen für eine Perkussion-Elektro-Jam-Session gebaut. Aber auch hier bleibt die Interaktion ganz auf der musikalischen Ebene. Dass das Publikum angeleitet die Halle verlässt, während das Stück noch läuft, ist kaum ein theatralischer Prozess.
Oder versucht man bei der Ruhrtriennale gerade bewusst, die Grenzen von dem, was Musiktheater ist und sein kann, zu erweitern, neu zu definieren? Auch die Eröffnungsproduktion „Ich geh unter lauter Schatten“ lotete ja hier schon Grenzen aus. Aber muss man, jenseits aller Gattungsgrenzen, nicht etwas sagen, wenn man bedeuten will? Den und die ansprechen, die man überzeugen will? Reicht es wirklich schon, künstlerisches Material in den Raum zu stellen, diesem publizistisch Bedeutung zuzuweisen und zu erwarten, dass das Publikum die Verbindung eigenständig herstellt? Braucht es dazu wirklich das Label „Musiktheater“?