Foto: Stefanie Rhaue (Galina), Christian Venzke (Rasputin), Wladimir Polatynski (Kellner) und Ensemble © H. Dietz
Text:Christine Wild, am 29. Oktober 2017
„Rasputin“ am Theater Hof als Musical-Uraufführung
Forrest Gump ist wirklich ein schlauer Typ. „Das Leben ist wie eine Schachtel Pralinen – man weiß nie was man kriegt.“ Das stimmt. Gut, man könnte auch einfach eine Schachtel kaufen, in der sich nur eine Sorte Pralinen befindet. Die, die man kennt und mag. Aber wo bliebe dann die Vielfalt, die Überraschung, das Neue?
Reinhardt Friese, Intendant am Theater Hof, greift gern und mutig in die gemischten Schachteln: Mit selten gespielten Stücken, Uraufführungen und gar Auftragswerken bereichert er seinen Spielplan. Und der Erfolg, etwa mit Stephan Kanyars Musical „Einstein“, gibt ihm Recht. Weniger Glück hatte er mit dem Musical „Rasputin“ von Paul Graham Brown, das am Samstagabend in Hof, eigens für die Bühne in der Saalestadt in Auftrag gegeben, Premiere hatte – und das Publikum mehr als irritierte.
Der Inhalt an sich ist interessant und bestens geeignet für die Bühne: Grigori Rasputin, der mysteriöse Wanderprediger und Geistesheiler aus Sibirien, rettet den Zarewitsch, der als Bluter an inneren Verletzungen zu sterben droht. Damit sichert sich Rasputin eine unverzichtbare Position am Zarenhof in St. Petersburg. Von 1907 bis zu seiner niemals aufgeklärten Ermordung 1916 lebt er dort als einflussreicher Heiler, Vertrauter und Berater – angefeindet sowohl vom misstrauischen, unterdrückten Volk als auch von konservativen Vertretern der Aristokratie, die durch seinen Einfluss die Monarchie und somit ihre eigene Stellung bedroht sehen.
Auch, dass es sich bei Rasputin um eine ambivalente Erscheinung handelt, ist so bekannt wie bühnentauglich: Hochgeachteter Prediger und Geisterheiler mit einem Hang zum Mystisch-Spirituellen einerseits; andererseits berühmt für Alkoholmissbrauch und sexuell ausschweifende Orgien. Aber: Ist es wirklich nötig, das dem Publikum mit dem verbal-visuellen Holzhammer zu vermitteln?
„Grigorin, wäschst du dich nie?“ – „Doch klar: immer nach dem Vögeln!“ ist einer der ersten Dialoge, mit denen Paul Graham Paul sein Publikum zu unterhalten sucht. Ok, kann man mal machen. Aber kaum kehrt Rasputin nach erledigtem Geschlechtsakt auf die Bühne zurück, fragt ihn seine Gespielin Galina, während sie Rock und Bluse zurecht rückt: „Wo bleibt denn der Spaß, wenn das Vögeln kürzer ist als der Weg hierher?“. Als Galina dann einen Ohrring findet, kommentiert Rasputin: „Der ist dir wohl beim Blasen weggeflogen?!“.
Leider durchziehen diese geschmacklosen Dialoge das Musical vom Anfang bis zum Ende. Und als wäre das nicht schon genug, zeigen Texter und Komponist Brown sowie Regisseur Roland Hüve zur Krönung auch noch eine von Rasputins Kopulations-Orgien im kaum etwas verbergenden, unästhetischen Schattenspiel, nachdem der Chor ein Loblied auf Nippel, Ritze und den Alkohol gesungen hat; eventuell wäre die Botschaft beim Publikum auch mit etwas weniger plumpen und Worten und Bildern angekommen…
Schade, wirklich, denn die Idee ist gut: Eingebettet in die Teil-Biographie der schillernden Figur Rasputins schildert Paul Graham Brown wie nebenbei die politischen Verwicklungen und sozialen Missstände im Russland des frühen 20. Jahrhunderts. Als überdimensionales Fotoalbum gibt dabei die von Annette Mahlendorf gestaltete Bühne so klug wie berührend ausgewählte Einblicke in die historischen Begleitumstände: von einer Armenspeisung bis hin zur Parade auf dem Newski-Prospekt reicht ihr Bilderbogen, den sie eindrucksvoll auf verschiedene Flächen projiziert. Auf diese Weise gelingt es ihr außerdem, fast komplett ohne weitere Ausstattung, riesige, zentralperspektivische Säle und Palasträume zu erschaffen, die das Bühnenpersonal dann bespielen kann.
Also: bespielen, im Rahmen dessen, was Regisseur Roland Hüve aus dem Musical macht. Und das ist leider nicht viel. Übergangslos reiht er Szene an Szene und lässt die Protagonisten in ihren prunkvollen historischen Kostümen (Annette Mahlendorf) das Geschehen in einer müden Mischung aus einfallsloser Konservativität und plumper Freizügigkeit abbilden.
Zum Glück kann er dabei auf ein höchst motiviertes Ensemble zurückgreifen, das alles daransetzt, zu retten, was zu retten ist. Allen voran ist da Christian Venzke zu nennen, der erst eine Woche vor der Premiere für den verletzten Markus Pol als Rasputin eingesprungen ist. Mit donnernder Sprechstimme unterstreicht er nicht nur die plumpe Männlichkeit des Titelhelden, sondern auch dessen fanatische Gottesfurcht. Dabei intoniert er in den musikalischen Passagen erfreulich exakt, obwohl ihm – wie auch den restlichen Sängern – Komponist Paul Graham Brown mit wirr geführten Melodie, die ständige Registerwechsel erfordern, nicht gerade entgegenkommt.
Als Rasputins größte Fürsprecherin tritt Zarin Alexandra auf, der Cornelia Löhr ihren fein nuancierenden Sopran leiht. Fein gestaltend erscheint sie mal als verzweifelte Mutter in Todesangst, mal als starke Herrscherin, die aber trotzdem ein Gehör für die Missstände des unterdrückten, hungernden Volks hat. Dieses meldet sich in Gestalt des Chors immer wieder zu Wort – leider nicht nur als stimmgewaltiges, von Claudio Novati sehr gut vorbereitetes Gesangskollektiv, sondern auch in vierzehn (!) kleinen Einzelrollen, deren Sprechtextmassen die größtenteils nichtdeutsche Sängerschar verbal an ihre Grenzen bringt. Als profilierteste Sozial-Kämpferin aus dem Volk tritt Solistin Stefanie Rhaue als Galina auf: mal setzt die Arbeiterin aus der Zigarettenfabrik ihren starken Mezzosopran kämpferisch im Namen des Ausgebeuteten, mal verführerisch als Geliebte Rasputins ein.
So stur wie verletzlich kommt Zar Nikolaus daher, den – anstelle Christian Venzkes – kurzfristig Thilo Andersson übernimmt. Herzerfrischend singt und marschiert er zusammen mit Zarewitsch Alexei (ein echtes Nachwuchstalent: der zwölfjährige Elias Himes) über die Bühne.
Für die unglaubwürdigste Wendung im gesamten Musical lässt Paul Graham Brown Fürst Felix (Dirk Konnerth, der ein wenig Wiener Operettenschmäh nach St. Petersburg bringt), dessen Frau Irina (sowohl sängerisch als auch in der Darstellung überaus temperamentvoll: Judith Jacob) und Geheimagent Oswald Raynar (Daniel Printz) sorgen: Felix bringt es, getrieben von seiner heimlichen (und bis zu dieser Stelle auch für das Publikum nicht im geringsten ersichtliche) Liebe zu Rasputin nicht über’s Herz, den Titelhelden im Rahmen eines Komplotts zu töten. Das übernimmt dann kurzerhand seine Gattin, um im Umfeld der Aristokratie weiterhin die Homosexualität ihres Mannes zu verschleiern. So also interpretiert Paul Graham Brown den sagenumwobenen Tod Rasputins – ohne leider jedoch bis zu dieser Stelle die geringste Motivation dafür zu liefern.
Seine gesamte, nicht schlüssige Story verpackt er in ein Musical, das eher als Operette daherkommt. Russische Sakral- und Volkstöne kombiniert er mit Walzer, Marsch & Co., die nahezu ständig um eine einzige Hauptmelodie kreisen. Glücklicherweise hält das die Hofer Symphoniker unter der inspirierten Leitung von Michael Falk nicht davon ab, trotzdem ein lebhaftes Feuerwerk im Graben zu zünden.
Hoffentlich wagt Intendant Reinhardt Friese trotzdem weiterhin den Griff zu Abseitigem und Neuem – immerhin hat er bisher stets ein sehr gutes Händchen dafür bewiesen.