Foto: Klucks "Scheißleben..." am Theater an der Rott. Aufstellung zum Familienfoto © Bohumil Kostohryz
Text:Martin Bürkl, am 2. Februar 2015
Eine breite, sich nach oben verjüngende Treppe dominiert die Bühne. Hoch droben, mit dem Kopf schon fast am Schnürboden, sitzt Gott – oder der Wächter zum Eingang des Paradieses, vielleicht auch nur der ‚Spielleiter‘ des heutigen Abends: Der Musiker an den Keyboards trägt langes graues Haar, er dreht sich niemals um. Neben ihm ein Computerbildschirm, vielleicht um den Synthesizer zu steuern oder um mittels Kamera das Geschehen auf der Bühne zu beobachten. Mit der Allmacht der donnernden Kirchenorgel scheint er die fünf Gestalten auf der Bühne wie Marionetten zu führen. Und so könnte er auch der Vater sein, der bis zum Tod unerreichbar bleibt, der Kriegsheimkehrer ist spürbar nur durch Gewalt.
Zu Beginn allerdings stehen die Schauspieler an der Rampe. In Kleidern, die alpenländischen Trachten ähneln, skandieren sie einen Lebenslauf. Die Laufbahn des augenscheinlich zum Scheitern verurteilten Andreas Altmann schwirrt in den Ohren des Publikums – von einem abgebrochenen Studium zum anderen, von einer Anstellung zur nächsten, von der Psychoanalytikerin zum indischen Guru. Gerade noch vor dem Erreichen des 40. Lebensjahrs erfolgt plötzlich der Durchbruch als Reiseschriftsteller. Von Null auf Hundert.
Doch um den Erfolg geht es nicht. Nach der Einleitung dreht sich alles um die „eigene Scheißjugend“ aus dem streng autobiographischen Roman von 2011. Eine Abrechnung mit dem eigenen tyrannischen Vater, der Kinder und Frau misshandelt und zugleich hochgeachtet im katholischen Wallfahrtsort im bayrischen Altötting Rosenkränze verkauft. Dieser Exorzismus, diese gnadenlose Abrechnung ist zugleich Annahme und Integration der eigenen Vergangenheit. Das Stück hat im vergangenen Jahr in Graz das Licht der Theaterwelt erblickt. Nun steht die Bearbeitung von Oliver Kluck in einer luxemburgisch-deutschen Koproduktion in Eggenfelden auf der Bühne, keine 30 Kilometer vom historischen Handlungsort entfernt.
Der Text würde als Monolog durchgehen, er verteilt sich aber auf Vater, Mutter, den großen Bruder… und schon bricht die Rollenverteilung auf. Alle sind mal Täter, jeder ist mal Opfer. Ein Kleidertausch verwischt die Grenzen noch mehr. Der Abend ist rasend! Sagt man der Gegend eine gewisse Behäbigkeit nach, so ist die Inszenierung das Gegenteil. Der gefünfteilte Ich-Erzähler – er fleht einsam und er brüllt chorisch: Nie geäußerte Worte des Hasses gegenüber dem Vater, Schimpfwortkanonaden vom Vater, drastische Schilderungen von Prügeln und der (Nicht-) Entdeckung der eigenen Sexualität. Die zentrale Treppe ist dabei der Ort für das perfekt aufgestellte Familienfoto, sie ist der Workout-Park um den Mädchen zu gefallen, sie ist die Kellertreppe an der der größere Bruder fast zu Tode kommt, weil der Vater dessen Kopf immer wieder dagegen schlägt. Die drastischste Szene der Inszenierung, die in ihrer Darstellung sonst intelligent symbolisch bleibt, hier aber weit unter die Haut geht.
Man singt gemeinsam Kirchenlieder. Eine im Buch nur zweiseitige Fahrradepisode inszeniert Claessen als schwindelnden Rennradrausch und die Freude über den ‚Einzug der Außenwelt‘ in Form des Fernsehapparats wird mit einer Inbrunst gespielt, als sähe ein Schiffbrüchiger plötzlich Land.
Ein schmerzender Stachel, der ins Fleisch gedrückt wird, es wiederholt penetrieren soll, muss auch immer wieder herausgezogen werden. Das schafft die Inszenierung mit ihren kurzen Entspannungsmomenten. Doch wirkliche Schmerzen bereitet sie nicht, dafür fährt ihr Zug zu schnell über einen hinweg. Aber sie hinterlässt einen tiefen Eindruck – auch den Eindruck einer großartigen Ensemblearbeit und konsequenten Regie.