Foto: Giftmord in verschwimmenden Welten: Claudia Mahnke (Fürstin, l.), Asmik Grigorian (Kuma) © Barbara Aumüller
Text:Andreas Falentin, am 5. Dezember 2022
Tschaikowsky hielt seine 1887 uraufgeführte „Zauberin“ für seine beste Oper. Wenn man die aktuelle Aufführung an der Oper Frankfurt sieht und vor allem hört, ist man geneigt, diese Sichtweise zumindest in Erwägung zu ziehen.
Das Libretto, dass Ippolit Schpaschinski nach einem eigenen Stück verfasste, ist allerdings weitschweifig („diesem Text muss man helfen“, sagte Dramaturg Zsolt Horpácsy in der Einführung), die Handlung dagegen ungewöhnlich und operntauglich. Sie spielt sich im Wesentlichen an zwei Orten ab. Hier das Haus des fürstlichen Statthalters, wo alles Hierarchie und Repräsentation ist; dort das offene Haus der Witwe Nastassja, wo sich ganz unterschiedliche Menschen treffen, ihre Sorgen austauschen, von Freiheit träumen und sich von ihrer Gastgeberin verstanden fühlen, besonders die Männer. Weswegen alle sie nur „Kuma“, Gevatterin, nennen. Dieser Ort ist dem machtgeilen Geistlichen Mamyrow ein Dorn im Auge. Er bringt den Fürsten dazu, eine Inspektion durchzuführen. Er verliebt sich in Kuma, seine Frau wird eifersüchtig. Kuma gibt dem Drängen des Fürsten nicht nach, sie liebt seinen Sohn Juri. Davon erfährt die Fürstin nichts und vergiftet Kuma, der Fürst tötet seinen Sohn aus Eifersucht und seine Frau dazu und wird wahnsinnig. Was als Sozialdrama begann, endet als veristische Räuberpistole.
Überwältigend musiziert
Was aber nichts macht, denn es gibt ja die Musik. Und wie die hier gespielt und gesungen wird! Valentin Uryupin und das Frankfurter Opern- und Museumsorchester gestalten einen faszinierenden Fluss vom filigranen Holzbläsergespinst zu Beginn bis zum letzten Tuttischlag. Stets scheint sich eins zwingend aus dem anderen zu ergeben. Dabei verwechselt Uryupin nie Dynamik mit Lautstärke oder Tempo mit Geschwindigkeit und selbst im größten Fortissimo, im rasenden Presto auf den Schluss zu, bleibt der Klang transparent. Und es entstehen große Kostbarkeiten wie das aus der Stille sich aufbauende Dezimett (ein Ensemble für zehn Gesangsstimmen) im ersten Akt und drei große Duette. Im zweiten Akt zeigt die häufige Parallelführung der Stimmen unprätentiös und zwingend die emotionale Nähe der Fürstin und ihres Sohnes. Im dritten Akt zwischen Kuma und dem Fürst wird geradezu magnetisch Anziehung und Abstoßung musikalisch gestaltet. Und das große Miteinander von Kuma und Juri im selben Akt ist ein beispiellos zärtliches sich-aufeinander-Zutasten aus unterschiedlichen Einsamkeiten.
Das lässt sich natürlich auch erleben, weil die Frankfurter Oper das Stück perfekt besetzt hat. Kuma ist nicht nur musikalisch eine anspruchsvolle Rolle, es bedarf auch einer Darstellerin, die glaubhaft machen kann, dass alle Welt sie anziehend findet. Asmik Grigorian scheint von innen zu leuchten und singt wunderbare Bögen, so gelassen wie dringlich, es ist unmöglich, sich ihr zu entziehen. Ihre Gegenspielerin ist Claudia Mahnke als Fürstin, die ihre Stimme immer wieder ins Hysterische kippen lässt und unglaublich differenziert phrasiert. Ihr gelingt die Darstellung eines Paradoxes: ein Mensch, der alles tut, um die Leere zu verteidigen, die in seinem Leben herrscht. Dazu Ian McNeil als Fürst mit mächtigem Bariton mit interessanten hellen Farben in der Höhe: ein triebgesteuerter Kerl, der es schön haben und aus jener Leere ausbrechen will. Alexander Mikhailov wirkt als Juri, und das ist ein großes Kompliment, überhaupt nicht wie ein Opernsänger. Er verlässt sich nie auf Standardgesten und versucht genauso wenig, seinen etwas engen Tenor als größer erscheinen zu lassen als er ist. Er lebt einfach hochmusikalisch Juris Orientierungslosigkeit. Dazu kommt Frederic Jost mit bildschönem, klug geführtem Bass als Mamyrow, ein zehnköpfiges, durch die Bank brillantes Nebenrollenensemble und der von Tilman Michael fantastisch einstudierte Chor.
Misslungene Zuspitzungen, kluge Fragen, differenzierte Personenführung
Die Inszenierung von Vasily Barkhatov allerdings beginnt problematisch. Er holt die Handlung aus dem Nischni Nowgorod des 16. Jahrhunderts ins Heute, was ihr guttut. Und er versucht, vor allem im ersten Akt, durch Zuspitzungen Haltung zu zeigen, was aber zu Verengungen und Verkleinerungen führt. Gleich die Ouvertüre wird mit einer Slide-Show bebildert: Nastassja bei der Hochzeit mit einem älteren Mann, sie erleidet eine Fehlgeburt, die Ehe ist unglücklich, der Mann stirbt, möglicherweise mit ihrer Mitwirkung. Man muss sich mühen, der wunderschönen Ouvertüre zuzuhören, die ein anderes, melancholischeres Bild zeichnet. Nastassjas offenes Haus ist hier eine Galerie, kein Anlaufplatz für alle, sondern für ein queeres Milieu ohne wirtschaftliche Sorgen, ein Blasen-Sammelplatz. Das führt in dem Moment zu Schwierigkeiten, wenn es in der Handlung zu handgreiflichen Unruhen kommt. Die muss die Kuma-Gesellschaft dann im Fernsehen betrachten und sich künstlich aufregen, eine – unfreiwillige? – Ironisierung dieser Community, wodurch der Regisseur der eigenen Setzung Kraft entzieht. Und ist es wirklich produktiv, den monströsen, über Polizeigewalt gebietenden Priester als billige Parodie zu zeigen, mit schlechtsitzender Popen-Kutte und langem, dünnem Ziegenbart, ohne jede Fallhöhe?
Ab dem zweiten Akt allerdings wird Barkhatovs Inszenierung stark, konzentriert er sich auf Menschendarstellung, führt seine Sänger:innen differenziert, kleinteilig und bildstark und stellt kluge Fragen in dem Raum, etwa: Wenn ich mir meine Unabhängigkeit erkämpft habe, bin ich dann zwingend einsam? Christian Schmidt hatte für den ersten Akt eine coole Waschbeton-Galerie gebaut, jetzt kommt ein spätbürgerlicher Protz-Palast dazu. Die Handlung kommt auch in Schwung, weil immer wieder sekundenschnell zwischen diesen beiden Bildern gewechselt wird. Das erwähnte lange Duett von Kuma und Juri im dritten Akt wird zum Dreh-und Angelpunkt des fast vierstündigen Abends. Danach vermischen sich die Räume, scheinen die Interieurs zu wandern, verschwimmen die Welten. Und für den vierten Akt, der im Wald spielt, haben Barkhatov und Schmidt etwas Großartiges gefunden: den Imaginationsraum Theater als konkreten Spielort, einen Platz auf der Drehbühne zwischen den beiden Bühnenbildern, umgeben von Theaterwänden. Kuma trägt jetzt ein langes, weißes Hemd mit Schleppe (die fantasievollen Kostüme sind von Kirsten Dephoff) und wird von Visionen geschüttelt, die die gemeinsame Flucht mit Juri unumgänglich machen. Aber gibt sie nicht zu viel auf? Was für eine Verantwortung hat sie für das, was sie aufgebaut hat? Ihr Tod lässt diese Fragen offen. Man darf sie mit nachhause nehmen.