Foto: Großartige Chorszenen: Hier bingt der Chor den wunderbaren Knaben Gottfried (Aron Gergely) zum Vorschein. © Forster
Text:Detlef Brandenburg, am 5. Dezember 2016
Immer trifft es den bedauernswerten „Lohengrin“. Heinrich Mann hatte damit angefangen, als er seinen „Untertanen“ Diederich Heßling zur Bestätigung seines – sagen wir: etwas unterkomplexen – Welt- und Frauenbildes in eine „Lohengrin“-Vorstellung schickte. Seitdem ist des Parodierens und Destruierens kein Ende. Siegfried, ja, der ist ein toller Held, mein lieber Schwan! Lohengrins Zugtier dagegen muss für solche Bewunderungsfloskeln herhalten, der Ritter selbst sich als „Lodengrün“ veräppeln lassen, und sogar in der Augsburger Puppenkiste brummelte einst ein sangesseliger See-Elefant von „fernem Land, unnahbar euren Flossen“. Das hat der Gralsritter nun von seiner Popularität – deren Quellen freilich alles andere als stubenrein sind. Genau darauf zielte Heinrich Manns Parodie: Wagner öffnet in dieser Oper einer deutsch-nationalistischen Auslegung Tür und Tor, und durch dieses Tor sind Generationen von strammen Bewunderern einmarschiert. Trotzdem lohnt es sich, genauer hinzuschauen. Dann erkennt man, dass sowohl die konservative Vereinnahmung wie auch die parodistische Distanzierung dieser Oper zutiefst Unrecht tun.
Ausgerechnet im so gern verspotteten Frageverbot nämlich – „Nie sollst du mich befragen, noch Wissens Sorge tragen, woher ich kam der Fahrt, noch wie mein Nam’ und Art!“ – steckt eine systemsprengende Utopie. Wagner zielt damit, historisch gebildet, wie er war, treffsicher ins Zentrum mittelalterlicher Herrschaftslegitimation: auf Stand und Herkunft. An deren Stelle setzt er die moralische Legitimation und die persönliche Qualifikation des Helden, beides versinnbildlicht im pseudoreligiösen Gralsrittertum. Wagners „Lohengrin“ propagiert nichts Geringeres als ein moralisch integres Herrschaftsmodell jenseits eines „Establishments“, dessen Korruptheit am Beispiel vom Ortrud und Telramund, die „Nam’ und Art“ bei jeder Gelegenheit im Munde führen, unmissverständlich durchgespielt wird. Jede Verkürzung dieses Modells auf einen real existierenden Nationalismus würde diese Utopie verstümmeln; der wohlfeile Spott aber drückt sich vor ihrem normativen Anspruch. So oder so wird damit das sinnstiftende Zentrum aus dem „Lohengrin“ eliminiert.
Die pseudoreligiöse Überhöhung dieser Utopie allerdings und deren Verquickung mit der bei Wagner unvermeidlichen Liebeserlösungsgeschichte macht den Regisseuren heute das Leben mit dieser Oper zusätzlich schwer. Kann man einer Herrschaftsform, die ihre Berechtigung aus einer nicht weiter hinterfragbaren Überwirklichkeit ableitet und mit dem rigiden Frageverbot bis ins intimste Privatleben durchgreift, wirklich trauen? Was aber bleibt vom „Lohengrin“ übrig, wenn man das verneint? Genau an diesem Problem arbeitet sich Tatjana Gürbacas Inszenierung an der Essener Aalto Oper ab. Sie bietet dem Zuschauer eine Menge gezielt irritierender, teils aufschlussreicher, teils eher abwegiger Randglossen zum „Lohengrin“. Aber sie findet, wie viele andere ambitionierte Inszenierungen auch, kein Zentrum, von dem aus sich Wagners Oper für eine heutige Gegenwart begründen ließe.
Die Verlegenheiten fangen schon mit dem Vorspiel an, das Gürbaca mit einer Folge von Spot-artig durch die Projektion eines wilden Walddickichts hindurchscheinenden Bildern illustriert. Ein toller optischer Effekt. Aber kaum eine Musik verträgt eine solche Illustration mit klapperndem Fußgetrappel so schlecht wie diese im höchsten Maße überwirklichen, fragilen Klänge der geteilten Streicher. Da man hier allenfalls ahnt, aber noch nicht sicher weiß, wer wer ist, hält sich auch der Erkenntniswert in Grenzen. Marc Weegers Bühnenbild stellt den Zuschauern eine eng begrenzte, klar strukturierte Kunstwelt vor Augen: ein trichterförmig fluchtender, enger, durch hohe weiße Wände begrenzter Treppenkorridor, für dessen Bewohner die Kostümbildnerin Silke Willrett heutige Uniformen und Alltagskleidung entworfen hat. Menschen wie du und ich also. Sie bilden eine bewegte, von der Regisseurin auf den steilen Stufen raffiniert geführte, labile, manipulierbare Masse. Unter dem Druck der Ereignisse werden diese Brabanter gar von seltsamen Schwächeanfällen heimgesucht. Als der König sie zur Heeresfolge ausruft, sinken sie wie ohnmächtig nieder. Erlösung tut not, kein Zweifel!
Das Sinnbild dieses so sehnlich erwarteten Wunders hat die Regisseurin dann in raffinierter Weise vom Ritter selbst abgelöst. Wunderbar ist nicht der Ritter, sondern der Schwan, in dem die Mannen bei Lohengrins Ankunft ja auch wirklich zuallererst das Signum übernatürlicher Sendung sehen. Der Schwan aber ist hier ein zarter Knabe – was er auch bei Wagner ist. Nur stellt sich eigentlich ja erst am Ende heraus, dass in dem Vogel niemand anderes steckt als der Knabe Gottfried, Thronerbe von Brabant, dessen rätselhaftes Verschwinden Elsa angelastet wird und vors Gottesgericht bringt. Bei Gürbaca steigt dieser Knabe mit blutigem Hemd und tiefschwarz umrandeten Augen gleichsam aus der Masse auf und wird auf den Schultern der Choristen von ganz hinten bis nach vorn getragen. Es ist das Kollektiv, dessen Sehnsucht dieses Wunder hervorbringt. Lohengrin selbst taucht ganz beiläufig auf – es könnte jeder sein, in den sie ihre Erlösungsphantasien projizieren.
Die Beziehung zwischen diesem fast allgegenwärtigen, seltsam versehrten, wie traumatisiert über die Bühne irrenden (und von dem kleinen Aron Gergely großartig gespielten) Wunderknaben und dem Ritter bleibt ambivalent. Sie hat manchmal fast pädophile Züge. Und sie stört in der Brautnacht immer wieder die Zweisamkeit mit Elsa. Diese Interpretation des Schwans ist eines der klügsten und vielschichtigsten Leitmotive der Inszenierung. Daneben mutet Gürbaca den Zuschauern aber auch gesuchte, teils banale Bilder zu. Das Gefuchtel mit den Pistolen beim Gotteskampf oder mit der MP während der Kriegsbegeisterung wirkt plakativ. Die weibliche Solidarität zwischen Ortrud und Elsa mag im zweiten Akt ein Motiv für Elsa sein, Ortrud aufzunehmen. Im Finale aber widerspricht sie Text und Musik. Und Elsas brutaler Suizid ist schlicht überflüssig. Die Inszenierung hinterfragt, destruiert und überrascht mit Einfällen. Aber im Zentrum bleibt eine konzeptionelle Leerstelle, die auch durch die großartige Personenführung mit ihren immer wieder einprägsamen Situationen nicht überbrückt wird. Die Reaktion des Publikums entsprach diesem Zwiespalt: ein Wettstreit zwischen verärgerten Buh- und begeisterten Bravorufern.
In Bezug auf die musikalische Seite war der Beifall einhellig. Und das war vor allem das Verdienst des Essener Generalmusikdirektors Tamáš Nepotil. Immer wieder betört Nepotil den Zuhörer mit kammermusikalisch transparenten, von den Essener Philharmonikern mit bezaubernder Delikatesse gespielten Orchestersätzen, die sich aber nie als selbstbezügliche Episoden verselbstständigen, sondern stets eingebunden bleiben in eine weiträumige musikalische Disposition. Dass Nepotil diese Einbindung so zwingend gelingt, liegt auch daran, dass er die großen, triumphalen Zuspitzungen nicht als pauschale Lautstärkenexzesse ausposaunt, sondern sie aus motivischen Keimzellen und Schubkräften von Wagners Musik im Detail entwickelt. Das gilt auch für die großen Chorensembles, die, einstudiert von Jens Bingert, das musikdramatische Geschehen bemerkenswert vielschichtig und profiliert bereichern. Im Großen wie im Kleinen, im Innehalten wie in der Kulmination spürt man stets, was diese klingende Welt im Innersten zusammenhält – ein faszinierendes Erlebnis!
Leider – und erstaunlicherweise – hielt das Niveau der Gesangsleistungen mit Nepotils interpretatorischen Vorgaben nicht durchweg mit. Heiko Trinsinger ist ein großformatiger, dröhnend durchschlagender Telramund. Aber warum geht er die Partie mit einem derart dauerforcierten Forte an? Daniel Johansson dagegen ist ein eher zu schmaler Lohengrin, immer präsent zwar, aber die Stimme wirkt nicht wirklich heldisch, sondern flach, bisweilen angestrengt grell und impulsarm, letzteres auch deshalb, weil Johansson seine Töne oft ungenau attackiert und dadurch die Linienführung verschleift. Oder Ortrud: Natürlich ist sie ein „fürchterliches Weib“, Katrin Kapplusch macht das ja auch mit lodernder Intensität deutlich. Aber warum bleiben die leisen Töne, das Schmeicheln, Locken und Sticheln, das diese Erzintrigantin ja wahrlich auch im Repertoire hat, so unfokussiert und verschwommen? Bei Jessica Muirhead dagegen stellt sich eher die Frage, ob sie in dieser Partie richtig besetzt ist. Ja: Sie ist eine wunderbare Sängerin mit mädchenhaft hellem, metallisch schimmerndem Timbre, die traumsicher intoniert und bezaubernd phrasiert, und die die Partie tragend durchsteht. Aber ihre jugendlich-lyrische Stimme wirkt dabei überstrapaziert, wird grell. Ihr fehlt das dramatische Format. Mit Martijn Cornet ist auch der Heerrufer ungewohnt lyrisch besetzt, was der Partie ein unvermutet kantables, sehr schönes Profil verleiht, aber manchmal bräuchte sie doch mehr Vehemenz. Almas Svilpa gibt dem König wenig Differenzierung und vokale Aura, aber immerhin eine markante Präsenz in fast überdeutlicher Artikulation.
Man nahm viel zum Nachdenken mit nach Hause aus diesem ambivalenten, facettenreichen Abend – und den Verdacht, dass die Inszenierung bei genauerem Nachdenken zu einem großen Coup hätte werden können.