Michael Mayes (Casanova) steht in der Mitte der Bühne zwischen zwei Treppenaufgängen. Hinter ihm befindet sich eine übergroße Muschel. Das Ensemble versammelt sich um ihn herum.

Aufstand wider die Phallokratie

Ralph Benatzky, Johann Strauss: Casanova

Theater:Staatsoper Stuttgart, Premiere:22.12.2024Regie:Marco ŠtormanMusikalische Leitung:Cornelius MeisterKomponist(in):Ralph Benatzky, Johann Strauss

Die Staatsoper Stuttgart bringt mit Ralph Benatzkys „Casanova“ ein extravagantes Spektakel auf die Bühne: Ein Theaterabend, bei dem vor allem die Musik zu begeistern weiß.

Wahrlich, diesem zum Möchtegern-Verführer abgesunkenen einstigen Virtuosen der Liebe wäre der wohlverdiente Ruhestand des historischen Originals als Bibliothekar auf Schloss Dux zu gönnen gewesen. Zumal Casanova das Rentnerdasein bei der Berliner Uraufführung der Revueoperette im Jahr 1928 nicht vorenthalten wurde. Ralph Benatzky bediente sich für den Sensationserfolg im Großen Schauspielhaus bei Johann Strauss‘ „Cagliostro in Wien“, wechselte den Protagonisten aus und versah die Adaption mit der Laszivität der Roaring Twenties. 

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Vor Zeiten hatte Casanova alle Frauen haben können, außer der vom Alten Fritz vergötterten Primaballerina Barberina. Längst aber kam die Erfolgsgeschichte zu Ende. In Stuttgart zieht sich der abgehalfterte Liebeskünstler in jene Riesenmuschel zurück, der er anfangs entstiegen war. Denn geboren wird Casanova wie Botticellis Venus, als Frau. Freilich als eine im Verhältnis zum Inbild der Quattrocento-Schönheit von signifikant geringerer Anmut. Ob die Metamorphose der Liebesgöttin in den Rokoko-Libertin nun der reizenden Barberina halber erfolgt, wer weiß? 

Gut denkbar, dass die Vermännlichung ohnehin nicht zum Ziel geführt hätte. Denn die Primaballerina figuriert in zwei Personen und Geschlechtern: als auf ein Duo von Spielenden verteilte Frau und Freund der Travestie. Mit seiner Entscheidung für die einseitige Existenz als bloßes Mannsbild kann Casanova bei der Startänzerin demnach nicht landen. Seine Sexualität vagiert daher. Dem Mann und mit ihm der Phallokratie droht Überflüssigkeit. Erfolge stellen sich allenfalls zufällig ein. So, wenn die eigentlich biedere Laura vor dem Traualtar zweifelt, ob ihre Liebeslust auch in der Ehe gedeihen wird und der alternde Galan die Gelegenheit beim Schopf packt.

Aufwendig

In all dies investiert Regisseur Marco Štorman Gedanken und Einfälle zuhauf. Doch will das Ganze nicht so richtig zünden. Mag sein, weil er das Genderfluidum in zu hohen Gaben verabreicht. Genrebedingt sind die Figuren des eher zur Revue als zur Operette tendierenden musikalischen Unterhaltungstheaters ohnehin eher Typen als Charaktere. Für die Übergänglichkeit sexueller Identitäten ist das vorteilhaft, der dramaturgischen Profilierung bekommt es weniger. So gerät denn der Zufall zum herrschenden Moment. Die Aufmerksamkeit für die Figuren und Vorgänge auf der Bühne lässt nach. Zumal Judith Schalanskys ins Stück eingelegte Texte über Sappho als Vorreiterin befreiter Sexualität Volkshochulen-Atmosphäre atmen. 

Manch‘ aktualisierte Nummer aber trifft ins Schwarze, wie jene der für Elon Musk und seine phallokratischen Raketenambitionen Demonstrierenden. Eingebettet ist das satirische Vergnügen in Cassie Augusta Jørgensens munter zwischen den Geschlechtern einherhüpfende Showbizz-Choreografie. Demian Wohler stellt das genderfluide Treiben auf eine das Revuehafte deftig bedienende Glanz- und Glitzerbühne. Gülden befranst geben sich Vorhang und Rundhorizont. Inmitten der Spielfläche prangt auf einer Art Korallenriff – das freilich auch lasziveren Gedanken Raum bietet – Botticellis für die ganz große Abendunterhaltung umfunktionierte Muschel. Yassu Yabara steckt die Personnage in flott zwischen Weiblichem und Männlichem changierende oder aber Heterosexualität ironisierende Fummel.

Musikalisch hinreißend

Was aus dem Graben und von der Bühne tönt, hört sich vorzüglich an. Bernhard Moncado befeuert den Chor des Hauses zu vokal ansteckender Wendigkeit und Spielfreude. Bestens aufgelegt lässt sich das Staatsorchester Stuttgart unter Cornelius Meister vernehmen. Kapellmeister und Klangkörper musizieren betörend, was von Strauss übrig blieb, wiegen sich in Benatzkys triefend-ironischem Sentiment, treiben die szenischen Vorgänge launig voran und jazzen gediegen. Michael Mayes ist Casanova. Kavalierbaritonales geht Mayes ab, eher tendiert er zum schwereren Fach. Phrasierung und Tongebung sind robust, doch bis ins Letzte durchdacht. Der wendigen und widerspenstigen Barberina verleiht Maria Theresa Ullrich quicke Gegenwart. Als ihr alter ego macht Cassie Augusta Jørgensen gute Figur. 

Bezwingend verkörpert Esther Dierkes die an der Lustförderlichkeit der Ehe zweifelnde Laura. Vokal hat Dierkes das Zeug zur Operettendiva von Rang. Warmer Klang bis in die Spitzentöne und elegante Gesangslinie nehmen ganz unbedingt für sich ein. Moritz Kallenberg gibt einen tenoral-charmanten Hohenfels. Kallenberg agiert auch als einer der Comedian Harmonists, zu denen sich andere Mitglieder des großen Ensembles hinzugesellen. Tatsächlich begann die Weltkarriere des legendären Sextetts in der „Casanova“-Uraufführung, wo es mit seinen Einlagen für Furore sorgte. In Stuttgart bestreitet es unter anderem Werbeblöcke für zweifelhafte, damals angepriesene Potenzmittel.