Ein Tänzer befindet sich im verlängerten Unterarmstütz und streckt dabei ein Bein nach oben. Auf seinem Rücken liegt eine Tänzerin, die ebenfalls ihre Gliedmaßen von sich streckt.

Suggestive Prophetie

Rafael Bonachela, Stephanie Lake, Goyo Montero: Bo­nach­e­la/​Lake/​Mon­te­ro

Theater:Staatstheater Nürnberg, Premiere:26.04.2025Regie:Rafael Bonachela, Stephanie Lake, Goyo MonteroKomponist(in):Nick Wales, Robin Fox, Owen Belton

In seiner letzten Spielzeit am Staatstheater Nürnberg trumpft Ballettdirektor Goyo Montero mit einem imposanten Dreiteiler auf: Neben Monteros Choreografie „Tilt“ tanzt das Ensemble Rafael Bonachelas „Lux Tenebris“ und Stephanie Lakes „Artefact“. 

Seit 17 Jahren reagiert das Publikum mit Dankbarkeit und Liebe für Goyo Monteros immer wieder mit Auszeichnungen überschüttete kalte Ästhetik, heißen Tanz und seine sich durch Abstraktion, Aktionismus und Atomisierung auszeichnenden Kreationen. Einmal mehr holte Montero für seinen letzten großen Nürnberger Tanzabend vor dem Wechsel an das Niedersächsische Staatstheater Hannover international namhafte Choreograph:innen mit wesensverwandtem Puls, deren Leistungen er dann immer mit etwas mehr Impuls und Energetik überrundet.

Hannover kann sich freuen, muss sich aber auch darüber klar sein, das Monteros Kompanie für die Bewahrung des nach Nürnberg erwartbaren Flow und Geist eine Ensemblestärke braucht, die in enger Umschulterung die gesamte Bühnenbreite füllen muss. Monteros Tanzwelt gewinnt ihren Glanz auch aus der Fülle. Und diese steht unter den seit Jahren in Niedersachsen diskutierten Sparmaßnahmen an der Kultur in ständiger Gefahr.

Klare Strukturen

Monteros 2023 für Hannover entstandene Kreation „Tilt“ beginnt – genau wie Rafael Bonachelas 2016 für seine Sydney Dance Company erfundenes und inhaltsgemäß „Lux Tenebris“ betiteltes, jetzt in Nürnberg erstaufgeführtes Stück – mit Lichtblitzen aus wechselnden Höhen und Richtungen: Die Tänzer:innen werden unter blitzschnell wechselnden Gruppierungen und Paarungen sichtbar. Bonachelas 40-Minüter und Monteros 20-Minüter ersparen den im Hellen und im Dunklen zu ihren nächsten Positionen eilenden und diese in hektischer Geschwindigkeit füllenden Tänzer:innen nichts. Die Tendenz zum Unisex mit undeutlicher geschlechtlicher Zuordnung wird durch das diffuse Licht der ersten beiden Stücke (Christian van Loock und Sascha Zauner mit Giulia Bandera) verstärkt.

An diesem Abend trägt keine einzige Person Rock. Und seltsam: Aleisa Jelbarts saubere Shirts und Shorts für „Lux Tenebris“, Margaux Manns mit Linien konturierte und anarchisch anmutende Casuals für „Tilt“ sowie Stephanie Lakes beigefarbene Topps für ihre in Nürnberg entwickelte Eigenkreation „Artefact“ wirken nicht nur androgyn, sondern haben auch abkühlende Korrektheit. Lakes textile Beige-Töne sind kein Zufall: Ihre Choreographie entwickelt aus über die eigenen Gesichter streichenden Händen und hektischen Positionswechseln mit gespreizten Beinen und gymnastischer Disziplin das wiederholbare Schrittmaterial, welches Lake in kurzatmigen Variationen fortspinnt.

Mit einer uniformierenden Evolution und einem Verschwinden von Individualität finden sich die drei Choreograph:innen offenbar ab. Der Uniformität entkommt hier niemand auf längere Zeit. Sogar die Irregularität des Ausbruchs durch in allen drei Stücken bemerkenswert kurzen Soli und Duos gehorcht einem übergeordneten Plan, der tieferes Einlassen, Zärtlichkeit und dauerhafte Empathie über den glückversprechenden Kristallisationspunkt hinaus brüsk abschneidet.

Einheit durch Abwechslung

Monteros Beitrag „Tilt“ ist im Mittelteil dieser Trias auch der schroffste. Seine Licht- und Kostümsetzungen, die Irregularität dieser Choreografie haben etwas atmosphärisch, nicht physisch Schmutziges. „Tilt“ bezeichnet im Poker den Moment, ab dem eine Person im Kontrollverlust schlechte Entscheidungen zu treffen beginnt. Demzufolge punktet „Tilt“ mit überraschungsreich synkopischen Kanten, denen Owen Beltons elektronische Komposition nichts Harmonierendes beigibt.

In „Artefact“ lässt Lake die Kompanie in Einerreihe marschierend auftreten. Dann umrundet das Kollektiv mit Kreisen und Halbkreisen die herausgehobenen Episoden. Ganz schnell löst Lake diese Regungen von Individualität wieder auf, während Robin Fox in seiner für die Endversion verfeinerten Musik schmierig sentimentale Klavier-Töne heile Welten vorgaukelt. Lake, welche die Flüchtigkeit des Lebens mit leisen und lauten Momenten feiern will, macht diesen Betrug durch schnelle Bewegungswechsel offenkundig.

Lux Tenebris“, Bonachelas langer erster Teil über den Wechsel von Licht und Dunkel mit dem Einfluss auf physisches und psychisches Leben, ist dagegen ein sportlicher Aufschrei und zugleich gedehnter Genussmoment aus Disziplin, Härtetest und Konditionstraining. Getanzt werden diese Spiegelungen von Lebensgefühlen des 21. Jahrhunderts mit charismatischem Glanz. Monteros rabiat-elegantes und letztlich human-romantisches Techno-Ballett, welches er immer wieder mit literarischen Assoziationen von Sebastian Brants „Narrenschiff“ bis Hesses „Steppenwolf“ verdichtete, spiegelte Zeitgeschichte zwischen der hedonistischen Spaßgesellschaft und dem, was Dave Eggers in seiner Dystopie „Every“ die „Sicherheit der individualisierten Einsamkeit“ nennt. Ballett als suggestive Prophetie.