Foto: Der neue „Lohengrin” am Staatstheater Nürnberg - mit 300 beweglichen Stabelementen © Bettina Stöß
Text:Dieter Stoll, am 13. Mai 2019
Als vor elf Jahren, bei der letzten Nürnberger „Lohengrin“-Produktion, der Regisseur und Bühnenbildner Michael Simon das große Wagner-Pathos mit Puppenspielern unterminierte, verweigerte Premierendirigent Christof Prick die Verbeugung auf der Bühne. Das musste David Hermann jetzt in der nächsten Inszenierungs-Variante bei Generalmusikdirektorin Joana Mallwitz trotz seiner demonstrativen Ankündigung einer „ungewöhnlich humorvollen“ Deutung des sonst nur dank Leo Slezak erheiternden Stückes kaum befürchten. Obwohl die im Original nicht geplante Bühnen-Fleischwerdung von Germanen-Gott Wotan und Christen-Gralskönig Parzival am Ende zu einer unvorhersehbar radikalen, durchaus als Provokation ankommenden Machtübernahme führt. Die überregional grade heftig gehypte Chefdirigentin der Staatsphilharmonie, die nach dem spektakulären Einstieg mit Prokofjews „Krieg und Frieden“ und einer aufflammenden Leuchtspur von Konzerten erst die zweite Oper am Stammhaus einstudierte, ist bei der Musik sowieso und mit Blick auf die Szene offenbar auch vor allem eins: neugierig. Und wenn der Regisseur bei seinem Umgang mit dem mystischen Quizverbot auf der Kippe zwischen Barbarei und Zivilisation mit Asterix und einigen Gefährten aus Game of Thrones tänzeln will, kann sie im feinfühligen Klang-Auspendeln von süffigem Rest-Belcanto und harschem Wucht-Drama akustisch jederzeit gegenhalten.
Mallwitz ist also das klare Guthaben der Aufführung. Die energiespendend mit Signalen arbeitende Dirigentin lenkt nach dem versonnen aquarellierten Vorspiel das Ensemble auf einen Teppich farbkräftig schillernder Lyrik-Poesie. Nahezu jedes Aufbäumen zum pathetischen Effekt, ohne den dieses Werk schwerlich auskommt, ist dort eng verbunden mit grummelnd grundierender Urgewalt der Emotionen, und selbst bei den steilen Rennstrecken zu Wirkungstreffern bleibt Zeit für überraschende Blicke auf Seitenwege. Das Unerhörte hat Konjunktur, im Orchester rumort das Detail. Dazu mutige Experimente, wenn etwa der Titelheld einen Teil seiner Abschieds-Arie schutzlos nahezu á capella singt und im Gegenschnitt der Hochdramatik scharfer Kontrast den triumphierenden Ausnahmezustand als wahre Gewalt quittiert. Mit den Musikern der Staatsphilharmonie herrscht da bestes Einvernehmen, die Balance mit einigen Solisten-Stimmen und dem gelegentlich hinter der Kulisse akustisch wegtauchenden Chor braucht noch ein paar Trainings-Vorstellungen. In der Grundqualität indes ist der Mallwitz-Wagner, immer leicht sprudelnd im Vorwärtsdrang, jenseits von heimlichen Weihfestspielen so starkes Theater, dass jedes Extrem der Inszenierung aufgefangen wird.
Da haben Regisseur David Hermann und sein auch für Licht und Video zuständiger Bühnenbildner Jo Schramm einiges zu bieten. Ein Szenen-Entwurf aus 300 beweglichen, je sieben Meter hohen Stabelementen, die aus dem Bühnenhimmel baumelnd nach dem kleinen Einmaleins der Innenarchitektur als mobile Raumteiler für den nahtlosen Wechsel zwischen Wänden, Gassen, Fluchtwegen und Symboltapeten sorgen, deuten auf abstrakte Dekorationskunst. Doch in diesem kargen Rahmen wird es schnell unheimlich konkret, eine scharf abgegrenzte Front aus Gut und Böse steht sich gegenüber. Die Germanen tragen Hörner am Kopf und groben Stoff am Körper, die Christen lassen ihr Missverständnis von kultivierter Eleganz in milder Ahnungslosigkeit glitzern. Beide Volksgruppen haben ein Herz für begriffsstutzige Passanten und treten wappentierisch ernst mit schwarzen Raben oder weißen Tauben an. Wer mit wem? Die Dramaturgie ist dankbar für sachdienliche Hinweise. Mit dem bunten Pop-Ritter Lohengrin als Gegenspieler der dunklen Bösewichter und seinem später sogar im Brautgemach in gleicher Kostümierung auftauchenden Komplex-Papa Parzival (Jochen Kuhl, kürzlich noch nebenan im Schauspiel ein wortreicher König Lear, ist auf pantomimisch übergriffige Pädagogik am Objekt des verlorenen Sohnes kapriziert) entsteht die Überraschungs-Ebene vom unlösbaren Generationskonflikt auf höchster Ebene. Die angeordnete Vereinigung der irdischen Völker bleibt sowieso Illusion, da gibt es keinen Königsweg.
Aber erst wird Krise abgearbeitet. Vor dem „Treulich geführt“ flattern rhytmisch fuchtelnde Edelknaben als Mischung aus Suppenhuhn und Engel, Kamm auf dem Kopf und Flügelchen am Rücken, aufgescheucht durch die „Traut euch“-Szene. Kein adäquater Ersatz für die Bayreuther Ratten von Hans Neuenfels. Das Brautbett zur Hochzeitsnacht wird frisch aus dem Versandhaus unter reger Beteiligung der Bevölkerung montiert. Dann ist das edle Paar endlich allein, man kommt zur Sache. Die kundige Jungfrau Elsa wirft mit sicherem Griff ihr Gewand bis aufs Korsett ab (Aufstöhnen im Parkett), und legt den g´schamig bleibenden Helden so buchstäblich flach, dass man nicht entscheiden mag, ob es Vorspiel oder Erste Hilfe ist. Egal, nach der verbotenen Frage an der Bettkante ordnen sowieso alle schnellstens die Zugänge ihrer Garderobe. Könnte zum angekündigten Humor gehören.
Am Ende brutale Schocktherapie ohne Vorwarnung. Lohengrin ist, nachdem er dem Widersacher ganz ohne Zauber in Handarbeit das Genick gebrochen hat, zwangsweise abgereist, Ortrud droht wie immer mit weiteren Intrigen und die Leiche von Telramund liegt aufgebahrt vor dem Volk. Was nun? Da müssen die Alten ran. Sollte Elsa noch vom vermissten Bruder Gottfried träumen, dessen Rückkehr sie von Richard Wagner und den Folge-Inszenierungen gewohnt ist, liegt sie falsch. Parzival und Wotan, die gerne mit Doubles arbeitenden Paten aus der anderen Welt, verständigen sich im ökumenischen Blickwechsel auf den faulstmöglichen Kompromiss, der die Ordnung sichert. Man schnippt mit dem Zauberfinger und der brachialgewaltige Tote erhebt sich feixend zur Machtübernahme. „Buh“, ruft da der erlösungsbedürftige Zuschauer, und die andern wundern sich. Aufgeschreckt sind nun alle, Respekt Herr Regisseur.
Im Nürnberger Wagner-Ensemble mehr Licht als Schatten. Eric Laporte ist ein Lohengrin, der auch im stabilen heldischen Ausbruch noch das innere Lyrik-Leuchten bewahrt und erst ganz am Ende mit der Kondition kämpft. Die Elsa von Emily Newton bleibt Fragment, die Stimme flackert und ihr angestrengtes Wechselspiel zwischen Opfer und Täterin hat Konstruktionsfehler. Karl-Heinz Lehner tönt als nie ohne Krone ausgehender König Heinrich wohlgesetzt wie eine wandelnde Neujahrsansprache für Konkurrenz-Sender. Die Bösen haben es wieder mal leichter. Sangmin Lee zeigt als gradlinig wütender Telramund viel Bauch und Stimme in vergleichbar ungeschützt imposanter Dimension, sein angetrautes „fürchterliches Weib“ Ortrud hat bei Martina Dike erfreuliche Rest-Wärme in der ätzenden Mezzo-Säure. Dass die Regie ihnen und ihrer ganzen Sippe ein Hohn-Grinsen ins Gesicht meißelte, ist repräsentativ für den Standard der Deutlichkeiten. Joana Mallwitz freute sich über den Jubel, David Hermann genoss das Buh-Konzert. Skandale sehen anders aus.