Foto: Der Krieg ist bunt am Theater Lübeck: Astrid Färber, Samantha Ritzinger und Henning Sembritzki in Maya Arad Yasurs „Bomb“, inszeniert von Sapier Heller. © Stefan Loeber
Text:Detlef Brandenburg, am 4. Februar 2023
Der letzte Satz von Maya Arad Yasurs Stück „Bomb – Variationen über Verweigerung“ ist eben verklungen, das Bühnenlicht gerade erloschen – und noch bevor der durchaus lebhafte Schlussbeifall einsetzt in den Kammerspielen des Lübecker Theaters, da klingt von hinten ein leise resignierter Stoßseufzer zu mir herüber: „Ich glaube, ich bin zu blöd für sowas!“ Ja, manchmal führt die postdramatische Theaterkunst direkt in die Kapitulation der Zuschauer. Wobei die resignierte Besucherin die Waffen des Verstehens vielleicht doch allzu früh gestreckt hat, denn sie hätte im Kunstwerk selbst durchaus einen gewissen Trost finden können. Immer wieder nämlich führt die Textpolyphonie der israelischen Autorin ins expressis Verbis ausformulierte „Blablabla“ und zu der immer aufs Neue wiederholten konsternierten Frage: „Und das soll Kunst sein?“ Yasurs „Bomb“ stellt sich als Kunstwerk ausdrücklich selbst infrage. Und genau hier setzt die Inszenierung von Sapir Heller an.
Alle Finessen der Postdramatik
Natürlich: Maya Arad Yasur erzählt in diesem Stück vom Krieg, einerseits. Und ja: Sie erzählt mit allen Finessen der Postdramatik. Dieser Text ist ein verwirrendes Geflecht unterschiedlicher Stimmen von Personen, die einer fiktiven Performance auf einer Biennale in Venedig zuschauen: Eine Frau, die Biennale-Besucher schreiben ihr den Namen Naomi zu, reißt sich ihre schwarzen Haare aus und klebt sie, Strähne für Strähne, an ihre Arme, so dass daraus nach und nach „Flügel“ entstehen, mit denen sie die antike Sagengestalt Ikarus verkörpert: „Ich bin Ikarus“, schreie sie – so behaupten die Stimmen der Besucher und fantasieren angesichts dieser Performance eine Geschichte von Krieg und Gewalt und Tod herbei: Sechs Personen suchen einen Plot, wollen aber keineswegs dessen Figuren verkörpern. Sie fabulieren von einem Jungen in einem namenlosen Kriegsgebiet, der erleben muss, wie sein Vater in der Wüste stirbt, weil er nach der Attacke eines Düsenjets vermeintliche Terroristen aus einem brennenden Auto retten will. Zuvor hatte er dem Sohn noch seine Kamera zurückgelassen, mit ihr wird der Junge später zu einem berühmten Kriegsfotografen werden. Ein anderer Erzählstrang handelt von Eatherly, dem vom Fliegen begeisterten Piloten des Jets, der sich später weigert, eine Schule zu bombardieren; und ein weiterer vom Vater der Performerin Naomi, einem Panzersoldaten, der einen Angriff von Eatherlys Jet überlebt und, vom Krieg traumatisiert, nach Hause zurückkehrt.
Die Rezensionen der Uraufführungs-Inszenierung vor drei Jahren am Schauspiel Köln konzentrierten sich vor allem auf diese in die Stimmenpolyphonie eingewobenen, raffiniert miteinander verknüpften Kriegsgeschichten und warfen dem Stück wie auch der Inszenierung von Lily Sykes vor, in der kunstvoll komponierten Indirektheit des dramatischen Erzählens die Dringlichkeit des Kriegsthemas verfehlt zu haben. Bei Sapir Hellers Lübecker Inszenierung würde dieser Einwand ins Leere laufen, denn sie macht sehr deutlich, dass es dem Text nicht per se um die Kriegsgeschichten selber geht, sondern fast mehr noch um genau diese Frage: Ob Kunst mit ihrer wesenseigenen Artifizialität vor der existenziellen Dringlichkeit des Kriegs-Themas nicht versagen muss. Auch in diesem reflektierten Selbstzweifel der Kunst gegenüber dem Krieg kann man durchaus eine der im Untertitel thematisierten „Verweigerungen“ sehen.
Ein Lama fragt: Warum?
Schon die Bühne ist in Lübeck eine Feier der Künstlichkeit: Anna von Leen hat sie mit einem von Glühbirnen gerahmten Podium für die großartige Sampler-Musikerin Rahel Hutter instrumentiert, die mit ihrem Fransen-Ärmel-Kostüm für die Performerin Naomi stehen könnte und deren Percussions-Soundscape der Inszenierung einen faszinierenden Klangraum gibt; und mit einem popbunten Styropor-Lama, das seine Bühnenexistenz offenbar der im Text formulierten Behauptung verdankt, dass das hebräische Wort „Lama“ auf deutsch „warum“ bedeute. Um das Lama und die Klangperformerin herum wirbeln die sechs bestechend präzise sprechenden und agierenden Schauspieler Astrid Färber, Andreas Hutzel, Samantha Ritzinger, Henning Sembritzki, Vinzenz Türpe und Will Workman. In ihren repetitiven Textschleifen und einem Comedy-haft überzeichnenden Overacting vergegenwärtigen sie die Kriegsgeschichten, die aber immer als ästhetisches Experiment erkennbar bleiben, als ein „Könnte es vielleicht so gewesen?“, das permanent seine eigenen Setzungen infrage stellt.
Tatsächlich wirkt die ganze Inszenierung so wie eine Auseinandersetzung mit der bereits im Vorspiel thematisierten Frage nach der Möglichkeit einer Definition von Kunst: Dass die immer wieder im „Blablabla“ strandet, ist ein klares selbstkritisches Statement: Kunst ist im Angesicht des Krieges immer in Gefahr, sich im artifiziellen Gelaber zu verlieren. Vor dem Hintergrund des aktuellen Weltgeschehens kommt einem allerdings unversehens eine ganz andere Frage in den Sinn: Ist das mögliche Versagen der Kunst wirklich das Hauptproblem, das unsere Gesellschaft mit dem Krieg hat? Der Abend ist brillant gemacht: witzig, turbulent, technisch präzise. Aber er wirkt schon auch wie eine sich in Selbstironie erschöpfende Kunst-Kunst, der der Krieg gerade recht kommt als Anlass zur quietschfidelen Nabelschau.