Drei Figuren unter einem Tuch silhouettenhaft zu erkennen, dahinter ein rot-blauer Screenhintergrund

Irgendwo dazwischen

Queeres Theater Kollektiv: The Unknown Flesh

Theater:JunkYard Dortmund, Premiere:19.12.2024 (UA)

Das Queere Theater Kollektiv konfrontiert sein Publikum in der Uraufführung von „The Unknown Flesh“ in der Regie von Darbyn Luisa Kalkuhl mit traditionellen Geschlechtsidentitäten. Eine gelungene Inszenierung für Menschen, die sich nur ein wenig mit dem Thema auseinandergesetzt haben. Alle anderen bleiben unter- oder überfordert.

Der Abend beginnt mit einer mechanischen Stimme. Über Lautsprecher fordert sie uns eintreffende Gäste auf, dem eigenen Charakter tiefer auf den Grund zu gehen: Was machst du zuerst im Fitness-Studio?, Wieso wählst du ein bestimmtes Outfit für eine Party? Wie reagierst du, wenn dich ein Freund um Hilfe bittet? Und zuletzt: Wo findet man dich auf einem alten Jahrmarkt? Die Antworten können wir auf kleinen Kärtchen markieren, jede Auswahlmöglichkeit ist einer Farbe zugeordnet. Mein Endergebnis ist nicht ganz eindeutig, die Antwortfarben Orange und Blau kommen sehr häufig vor. Letztendlich entscheide ich mich für Blau. Es folgt eine Reihe an Disclaimern, die dunkelste und hellste Lichteinstellung der Inszenierung sowie mögliche verstörende Inhalte werden angekündigt.

Eine Person im weißen Kittel bringt uns über den Hof des JunkYard in der Dortmunder Nordstadt, immer der eigenen Farbspur folgend. In einem Nebengebäude gelange ich mit meiner Blau-Gruppe zu zwei großen Porträtfotos. Sie zeigen eine Person in grauem Rollkragenpullover und sleek gestylten Haaren und eine zweite mit wilden, bunt gefärbten Locken und Regenbogen-Make-up. Mein erster Gedanke ist in dem Moment nicht, dass ich viel mit den Personen auf den Fotos oder den anderen Blauen meiner Gruppe gemeinsam zu haben. Im Umkehrschluss: Vielleicht sind wir doch alle mehr als unsere Äußerlichkeiten.

Dann geht es auf unsere Plätze vor der Bühne. Dort liegen drei weiße Stoffsäcke. Im Hintergrund ist auf einer großen Leinwand zu sehen, wie Tropfen auf einer Wasseroberfläche einschlagen und ihre Kreise ziehen. Eine sphärische Soundfläche breitet sich im Raum aus. Alles wird ruhig und temperiert. Die drei Stoffsäcke beginnen sich zu bewegen. Zunächst ganz zaghaft, dann koordinierter und auf den pulsierenden Rhythmus der Musik. Manchmal ist eine Hand oder ein Fuß durch den gespannten Stoff zu sehen. Das Bild erinnert ein wenig an die Theateraufführung in der Highschool-Komödie „She’s All That“ Ende der 90er Jahre.

Menschlichkeit in Person

Nach einer wirklich langwierigen Weile gehen die Stoffsäcke zu Boden. Zwei schleppen sich an den Rand der Bühne, einer bleibt vorne beim Publikum. Aus ihm schlüpft dargestellt von Iryna Shyrakanava die „Weiblichkeit“. Gekleidet in einen beigen Bodysuit, weiß sich diese zunächst gar nicht richtig zu bewegen. Sie stolpert, zuckt hin und her, sucht nach einer Form der Orientierung. Wer ist sie? Was definiert sie? Wie kann sie sein? Antworten darauf liefert eine KI aus dem Off.

Wie die Gesellschaft auch, propagiert die KI Anforderungen und Anleitungen, wie Weiblichkeit gelebt werden soll. Durch die Computer-Stimme wirken diese Eigenschaften künstlich und realitätsfern. Wie etwas Auferlegtes, das man zu jedem Zeitpunkt abstreifen kann, wenn man denn will. Eine Vorstellung, die in „The Unknown Flesh“ immer wieder verdeutlicht wird.

Offene Fragen

Der Ausdruck des eigenen Geschlechts ist persönlich. Etwas, mit dem man spielen kann. Aber auch ein gesellschaftlich verankertes Konstrukt, das von außen sehr viel Druck auf ein Individuum ausübt. Das kommt in der Inszenierung sowohl bei der Figur „Männlichkeit“ (Gianluca Mangione) als auch der Figur „Diverse“ (Francis Siefer) zum Tragen. Selbst sie, die außerhalb binärer Strukturen lebt, wird in Kategorien gezwängt, von denen sich die Figur in der Inszenierung aber aktiv lossagt.

Zum Abschluss der Vorführung liegen sich die drei Identitäten in den Armen und tanzen. Das vorher angekündigte, abschließende KI-generierte Video mit Chromosomen ist dabei eher Nebensache. Was zurückbleibt ist eine Fülle an Informationen, ein wenig sehr willkommene queere Freude und eine grundsätzliche Frage: An wen richtet sich dieses Stück überhaupt?

Für mich als queere Person liefert die Inszenierung keine wirklich neuen Denkanstöße. Die Aussagen und Anforderungen an die eigene Identität sind Dinge, mit denen man sich bereits zuhauf in unterschiedlichen Stadien befasst hat. Andererseits kann die Fülle an Informationen auch überfordern, gerade im Hinblick auf Menschen, die noch gar nicht im Thema sind.