Puristische Zeitreise

Marco Goecke: Orlando

Theater:Staatstheater Stuttgart, Premiere:02.06.2010 (UA)

Nachtschwarz, puristisch und sich ganz aus seiner genuinen, abstrakten und doch so beredt-anschaulichen Bewegungssprache heraus vermittelnd ist das Tanzuniversum von Marco Goecke. Als Spezialist für traditionelle Handlungsballette kann der Hauschoreograf des Stuttgarter Balletts wahrlich nicht gelten. Da war man doch gespannt zu sehen, wie der eigenwillige Tanzschöpfer das ambitionierte Vorhaben umsetzen würde, Virginia Woolfs mit fantastischen Elementen spielende, philosophisch grundierte Romanbiografie „Orlando“ zu vertanzen. Der junge Edelmann Orlando durchlebt bei Woolf die englische Geschichte vom 16. Jahrhundert bis zu den 1920er-Jahren, altert dabei selbst lediglich zwanzig Jahre und erwacht zudem aus einem tranceähnlichen Schlaf als Frau.

Auch wenn das Phänomen Zeit, das im Roman eine nicht unwesentliche Rolle spielt, in Goeckes beim Stuttgarter Ballett uraufgeführtem „Orlando“ nicht ganz überzeugend Niederschlag findet; Marco Goecke hat zur Musik des englischen Komponisten Michael Tippett ein zweistündiges Tanzstück ganz im Geist von Virginia Woolf kreiert, indem er analog zu ihrer literarischen Technik des Bewusstseinsstroms fabulös getanzte Tableaus kreiert, die vor fantasievollen Einfällen und zeichenhaft symbolischen Bewegungsdetails sprühen. Man kann den hermetisch abgegrenzten Raum der ganz in schwarz gehaltenen, fast leeren Bühne (Bühne und Kostüme: Michaela Springer, Licht: Udo Haberland), in den die unterschiedlichsten Gestalten zu Orlando vordringen, auch als einen Bewusstseinsraum interpretieren. Goeckes oft rätselhafte Bilder bieten wie immer viel Spielraum für die Fantasie des Betrachters.
Seismografisch flatternde und zappelnde Extremitäten, das Muskelspiel von nackten Rücken, verfremdete Alltagsgesten, Balletteleganz: „Orlando“ weist das typische Idiom des Choreografen auf. Der Tanz wirkt jedoch weniger von dunklen Gedanken getrieben als in manchem seiner anderen Werke. Und er hat differenzierte Charaktere herausgearbeitet, die die großartigen Tänzer mit Bühnenleben füllen, allen voran Friedemann Vogel in der Titelpartie. Zentrales Thema im Roman ist Orlandos Suche nach Identität und Selbstverwirklichung. Marco Goecke spiegelt dies in seinem zeitgenössischen Tanzuniversum und nimmt uns dabei mit auf eine vielschichtig oszillierende Zeitreise in die literarische Welt von Virginia Woolf.