Foto: Die beiden Popstars in Tatjana Gürbacas Bremer „Don Giovanni“: Birger Radde als Titelheld (links) und Christoph Heinrich als sein Diener Leporello © Jörg Landsberg
Text:Detlef Brandenburg, am 21. Oktober 2019
Ein solches Paar von Herr und Diener wie jetzt am Theater Bremen hat man in Mozarts „Don Giovanni“ lange nicht mehr, ja, vielleicht überhaupt noch nicht gesehen: zwei verkommene Outlaws an einer einsamen Straße in einer schwarz versehrten, regenverschlierten Landschaft – zwei Provinz-Desperados, die Roger Corman oder (was die Drastik einiger Szenen angeht) auch Quentin Tarantino auf ein Road Movie geschickt haben könnte, in dem nur leider keiner vorankommt, weil hier alle existenziell aneinander gekettet sind: Die in bravbürgerlicher Anämie dahinlebenden Figuren um Don Giovanni herum brauchen den Superlover, um wenigstens momentweise noch so etwas wie Vitalität zu spüren. Und der Superlover braucht die verklemmten Tugendapostel, um sein Bedürfnis nach immer neuen Exzessen an ihnen zu stillen. Was natürlich für beide Seiten keine Dauerlösung ist. Vielmehr gehen sie aneinander kaputt. Don Giovanni verausgabt sich am Ende buchstäblich bis aufs Blut. Und der berühmt-berüchtigte Triumphgesang auf das Ende des „Perfido“ wird zum Totentanz der politisch korrekten Konformitäts-Zombies.
Dass es eben der Tod ist, der hier die bürgerliche Moralkonvention regiert, macht die Regisseurin Tatjana Gürbaca auch dadurch deutlich, dass bei ihr der Komtur Giovannis erster und letzter Widersacher ist. Bereits der Mord berührt den Vitalitäts-Junkie Giovanni existenziell, weil er im Tod dem schlechthin anderen seiner selbst begegnet. Und dieser „Andere“ ist allgegenwärtig. Immer wieder ersteht der Komtur auf aus der erdig schwarzen Grube vorn an der Straße, in die er in der ersten Szene gesunken ist. Was konzeptionell natürlich kein grundstürzend neuer Interpretationsansatz ist – letztlich geht er zurück auf ein paar wegweisende Texte, die Attila Csampai schon vor 40 Jahren veröffentlicht hatte. Aber hier macht das Wie den Effekt. In Bremen ist eine Travestie des „Don Giovanni“ in die Psychogramme und die Ästhetik heutigen Unterhaltungskinos der heftigeren Sorte zu erleben, die Gürbaca brillant erarbeitet und hinreißend auf die Bühne gefetzt hat. So wie der großartige Birger Radde den Cavaliere spielt, ginge der in seinen immer wieder wechselnden Glamour- und Travestieklamotten von Silke Willrett glatt als bekiffter Rockstar durch; und Christoph Heinrichs Leporello könnte bis in die artifiziell choreographierte Bewegungscharakteristik hinein ein verkommener Bruder von Ziggy Stardust sein. Hegels Herr-Knecht-Dialektik wird auf die Pop-Ikonographie heruntergebrochen – und die beiden machen das phantastisch!
Dass die Frauen, insbesondere Mima Millo als Donna Anna und Patricia Andress als Donna Elvira, da nicht annähernd mithalten können, ist ein gewisses Manko dieses Abends. Wobei ihre Rollen natürlich in dieser Konzeption auch nicht ganz so dankbar sind. Aber ein bisschen profilierter, artifiziell überzeichneter hätten die edlen Damen schon sein dürfen. Denn gerade in der Künstlichkeit liegt ein charakteristisches Stilmittel von Gürbacas Pulp-Fiction-Inszenierung. Die funktioniert auch deshalb so gut, weil sie den Beweis liefert, dass man auch mit „Schund-Ästhetik“ die Charaktere und deren Beziehungen zueinander ungemein differenziert, originell und auch ausgesprochen witzig sezieren kann.
Man erkennt jederzeit, dass man es mit einem Dramma giocoso zu tun hat, die Personenführung ist in ihrer Profiliertheit meisterlich – und lässt doch eine gewisse Leere im Zentrum dieses extrem unterhaltsamen Abends zurück. Denn welchem kommunikativem Zweck das Ganze dienen soll, das bleibt etwas verschwommen. Selbst noch Klaus Grünbergs Bühnenbild ist zwar effektvoll, aber auch indifferent: geeignet für viele Gelegenheiten von „Warten auf Godot“ bis hin zu irgendwas Verregnetem von Jon Fosse. Die ganze Inszenierung wirkt selbstreferentiell, weil sie über das klug gestaltete Verhältnis von Mitteln und Werk nicht hinauskommt in eine Dimension kommunikativer Dringlichkeit. Worin ja übrigens auch eine gewisse Parallele zur Pulp Fiction liegt.
Über das vokale Niveau kann man nur staunen – wieder einmal in Bremen, was kein Zufall ist, denn hier steckt die Qualität im hauseigenen Ensemble. Einen Moment aber gab es diesem Abend, der nahezu sensationell war: als Hyojong Kim, der Ottavio, im ersten Akt sein „Dalla sua pace“ sang. Diese für die Wiener Fassung nachkomponierte kleine, zweistrophig-liedhafte Arie hat schon die berühmtesten Tenöre das Fürchten gelehrt. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich sie zuletzt so schön, so vollkommen natürlich, dabei klar fokussiert und wunderbar phrasiert, auf der Bühne gehört habe.
Auch die beiden Machomänner sind sängerisch wirklich gut. Birger Radde ist ein dunkler, vollklingender, viriler Don Giovanni mit aller nötigen Brillanz, der, vom Dirigenten Hartmut Keil fürsorglich begleitet, auch in der Champagner-Arie rhythmisch ziemlich sattelfest durchs Ziel ging. Und Christoph Heinrich warf sich mit Verve in die Diener-Partie und blieb sowohl darstellerisch wie auch vokal jederzeit auf Augenhöhe mit seinem Herrn. Mima Millo als Donna Anna und Patricia Andress als Donna Elvira waren für meinen Geschmack etwas groß besetzt, so dass ihnen vor allem in den wunderschönen Arabesken der Ensembles die Geschmeidigkeit fehlte. In der dramatischen Präsenz blieben sie ihren Partien aber nichts schuldig, wobei Mima Millo einen gewissen Hang zur aufgedrehten „Nummer“ zeigte und dabei manchmal arg heftig tremolierte, während Patricia Andress’ Stimme gelegentlich etwas hart und fest klang. KaEun Kimm war eine Zerlina von bemerkenswert schöner Stimmklarheit, Stephen Clark ein markiger, gebührend Bauerntölpel-hafter Masetto und Loren Lang ein kernig verwitterter Komtur.
Hartmut Keil steuerte das in dieser Oper äußerst heikel zu koordinierende musikalische Geschehen sicher und in vielschichtigen Konturen durchs turbulente Geschehen. Selbst im wohlgesetzten Durcheinander der „Drei-Orchester-Szene“ auf Giovannis Fest, das hier natürlich Genre-gerecht als entgrenzte Opiumorgie über die Bühne ging, behielt er die Übersicht, was man beileibe nicht jedem seiner Kollegen nachsagen kann. Und in den Rezitativen improvisierte er geschmackvoll und gelegentlich durchaus witzig am Hammerklavier. Aber ein bisschen mehr von diesem Witz, vor allem aber mehr Drive, mehr Impulsivität hätte auch das über Strecken allzu brav auf der Stelle tretende Orchesterspiel vertragen können. So sprang der Funke, der auf der Bühne nun wahrlich irrlichterte, leider nur selten in den Graben über.– Am Ende viel Befall für alle.