Foto: Szene aus der Uraufführung "Pinocchio" © Patrick Berger
Text:Georg Rudiger, am 4. Juli 2017
Joël Pommerat inszeniert die Uraufführung „Pinoccio“ von Philippe Boesmans beim Festival Aix-en-Provence.
„Wird Pinocchio jeden Tag die Schule besuchen?“, fragt der Theaterdirektor am Ende des ersten Aktes das Publikum auf Französisch. Und die vielen Kinder im „Grand Théâtre de Provence“ antworten mit: „Oui!“. Dass das internationale Musikfestival Aix-en-Provence die Uraufführung einer Kinderoper zur Eröffnung ansetzt, ist schon ungewöhnlich genug. Wie gut die neue, rund zweieinhalb Stunden lange Oper von Philippe Boesmans für die Kleinen funktioniert, merkt man spätestens an dieser spontanen Reaktion. Die Produktion, die auch in Brüssel, Dijon und Bordeaux zu sehen sein wird, ist auch eine Hommage an das Theater und seiner Magie, weil Regisseur und Librettist Joël Pommerat und Eric Soyer (Bühnenbild und Licht) mit einfachen Mitteln zauberhafte, poetische Momente schaffen, von denen sich auch die Erwachsenen verführen lassen. Die Kindergeschichte Carlo Collodis aus dem Jahr 1881 von der hölzernen Puppe, deren Nase wächst, wenn sie lügt, erscheint im neuen Licht.
Vor drei Jahren haben der belgische Komponist und der französische Dramatiker und Regisseur in der düsteren Oper „Au Monde“ erstmals zusammengearbeitet. Danach hatte Philippe Boesmans Lust auf einen leichteren, spielerischen Stoff, der auch für Kinder geeignet ist. War Boesmans‘ musikalische Sprache schon in „Au Monde“ tonal gebunden und überaus kantabel komponiert, so sind die Klänge von „Pinocchio“ noch traditioneller. Nur in den reinen Instrumentalpassagen zwischen den insgesamt 23 Szenen arbeitet Boesmans auch mit Verfremdungstechniken, die an Strawinsky erinnern. Neben dem transparenten Klangforum Wien, das unter der Leitung von Emilio Pomarico im Orchestergraben sitzt, sind immer wieder die drei Bühnenmusiker Tscha Limberger (Violine), Fabrizio Cassol (Saxofon) und Philippe Thuriot (Akkordeon) zu hören und zu sehen, die den eingängigen, stark melodisch geprägten Stil Boesmans in Richtung Schlager, Operette oder improvisierter Balkan-Folklore weiterentwickeln. Durch die spielerische Note der Partitur entsteht eine Leichtigkeit, die auch den humorvollen Aspekten der märchenhaften Geschichte Rechnung trägt. Nur gelegentlich kippen die vielen Dreiklangsbrechungen und Terzenschichtungen ins Kitschige und Boesmans‘ selbstverständliche Art, sich aus der Musikgeschichte zu bedienen, erhält einen bitteren Beigeschmack. Als Theatermusik, also Gebrauchsmusik im besten Sinne, überzeugt Boesmans‘ neoromantischer Stil, der nie dogamtisch wird, sondern mit einer gewissen Distanz daherkommt.
Diese erzielen die Musiktheatermacher auch durch die Figur des Erzählers, der als Theaterdirektor durch die Handlung führt, selbst aber auch verschiedene Rollen wie einen Gauner oder einen Mörder annimmt. Stéphane Degout wechselt ganz selbstverständlich zwischen Sprechen und Singen, führt seinen warmen, lyrischen Bariton in weichen Linien und ist der rote Faden in diesem modernen Märchen. Die vielen Szenenwechsel, die für Pinocchios Abenteuer notwendig sind, gestaltet die Regie fantasievoll. Mal wird das Licht ganz ausgeschaltet, um das Wachsen von Pinocchios Nase in Etappen zu zeigen, mal das Publikum geblendet, damit die Szene sich auf offener Bühne ändern kann. Die Videoprojektionen von Renaud Rubiano sind schlüssig und poetisch, die Kostüme von Isabelle Deffin erzählen vom Prekariat der Figuren.
Pinocchio ist kein süßer Lausbub, sondern erinnert in seinem weiß geschminkten Totenkopf-Gesicht eher an ein pubertierendes Monster. Chloé Briot singt und spielt die Partie mit Hingabe und klarem Profil. Ihr glockenheller Sopran verleiht Pinocchio trotz seines düsteren Äußeren dann doch eine kindliche Note. Marie-Eve Munger ist eine kristalline Fee mit ausgefeilten Koloraturen. Julie Boulianne singt und tanzt die Kabarettsängerin und den bösen Schuljungen mit Präsenz. Der Bassbariton Vincent Le Texier lässt den Vater und zwei weitere Figuren näherkommen, der Tenor Yann Beuron ist gleich in vier kleineren Rollen zu erleben. Am Ende wird Pinocchio zu einem echten Jungen und hat seine hölzerne Hülle abgelegt. Nun kann sein Leben beginnen.