Text:Jörn Florian Fuchs, am 4. Juni 2013
Obwohl Weihnachten ja schon ein Weilchen her ist, gibt es derzeit eine erstaunliche Renaissance von Engelbert Humperdincks Märchenoper „Hänsel und Gretel“. Erst Berlin, dann München und jetzt Paris. Seit Nicolas Joel die Opéra leitet, führt einen der Weg ja eigentlich kaum noch ins ehrwürdige Palais Garnier oder in die schmucklos moderne Bastilleoper. Joel ist ein Freund des Dekorativen und bei der Auswahl von Regisseuren arg mutlos.
Doch für die neue „Hänsel und Gretel“-Produktion lohnt sich jede noch so weite Reise. Der jungen Französin Mariame Clément ist schlicht ein Geniestreich gelungen. Sie erzählt vom abrupten Erwachsenwerden zweier Geschwister, die sich gegen allerlei eingebildete und reale Bedrohungen wehren müssen. Ein erster Clou: niemand ist hier arm und doch haben alle ständig Hunger. Die Kinder schnabulieren gern, der Vater giert nach Alkohol und gelegentlich nach den Reizen seiner Frau. Clément zeigt in Julia Hansens phänomenalem Bühnenbild fünf – zeitweise parallel bespielte – Räume. Links oben wohnt eine großbürgerliche Familie, edles Mobiliar und ein Klavier sind zu sehen, man kleidet sich etwas altertümlich, aber schick. Darunter liegt das recht ordentliche Kinderzimmer, in der Mitte ragen dürre Baumstämme empor. Auf der rechten Bühnenseite finden sich nochmals Wohnstube und Kinderzimmer. Auch die Figuren haben Doppelgänger, die sich aber keineswegs ordentlich aufführen. Die Mutter tanzt lasziv, die Kinder haben Chaos in der Bude.
Wer meint, Clément habe sich hier etwa bei Claus Guths psychologischen Räumen und Träumen bedient, der irrt. Cléments Spiegelkabinett führt ungemein sinnlich durch die Geschichte, erweitert und vertieft sie auf ganz eigene Art. Die Kinder erleben das enge Erziehungskorsett und auch die immer wieder aufflammenden Streitigkeiten ihrer Eltern als Belastung, derer sie durch Puppenspiel und Märchenerzählen Herr werden möchten. Nachts gewinnen die Imaginationen dann Alpdruck-Realität. Zunächst singt jedoch noch der Sandmann ein Schlaflied. Hier ist es übrigens eine Sandfrau, nämlich eine Freundin der Eltern, die mit ihrem Gatten zu Besuch kommt und mal eben nach den Kleinen schaut. Das Taumännchen wiederum ist tatsächlich ein Traumwesen.
Aber jetzt endlich zur Knusperhexe, sie wohnt in einem riesigen Kuchen, der merkwürdigerweise an ein paar Stellen wie ein überdimensionierter Hamburger aussieht und komischerweise die deutschen Nationalfarben trägt. Die Hexerei und das Ofenschubsen erzählt Clément zwar ganz nach der Vorlage, allerdings singt beziehungsweise performt Anja Silja diese Partie zum Brüllen komisch. Kunsperhexe Silja schält sich langsam aus ihrem hässlichen Kostüm und legt die Hakennase ab, darunter kommt eine Glitzerrobe zum Vorschein. Es folgt ein unglaublich witziger Tanz, bald tauchen zehn weitere Balletthexen auf und plötzlich wird einem klar, dass Humperdinck hier eine ganz französische klingende Ballettmusik geschrieben hat! Nachdem die Hexen aber doch irgendwann ausgetanzt haben und die Oberhexe im Ofen vor sich hin knuspert, schließt sich langsam der Kreis hin zur allumfassenden Erlösung. Die Familie findet wieder zusammen und der Chor aus einst verhexten Kinderseelen jubiliert traumhaft schön. Hänsel und Gretel sind nun gereift und erzählen den Kleinen ihre Geschichten, animieren sie zum Mitfühlen und Nachdenken.
Man könnte noch stundenlang von den szenischen Details schwärmen: Hänsels Gefängnis wird zum Beispiel von einer mörderischen Spinne bewacht, er kann in dem Moment fliehen, als er seine Angst überwindet – die Tür war die ganze Zeit offen. Oder Gretels kurzer Auftritt als Walküre, womit innerhalb einer halben Minute Humperdincks Wagner-Bezug gezeigt wird. Das Beste und Klügste überhaupt ist aber die Verdopplung vor allem der Kinder, damit wird das Kernproblem der Oper gelöst, nämlich dass zwei erwachsene Sängerinnen Brüderchen und Schwesterlein verkörpern müssen.
Auch musikalisch war es ein großer Abend. Das Opernorchester brauchte unter Claus Peter Flor zwar ein wenig (dröhnende) Anlaufzeit, dann stellte sich luftig-transparenter Wohlklang ein. Irmgard Vilsmaier und Jochen Schmeckenbecher waren ein formidables Elternpaar, Daniela Sindrams Hänsel war in jeder Hinsicht eine Wucht, Anne-Catherine Gillets Gretel eine glockenhelle Wonne.