kk_mt_koeln_gezeichneten.jpg

Psychogramm mit Wucherungen

Franz Schreker: Die Gezeichneten

Theater:Oper Köln, Premiere:20.04.2013Regie:Patrick KinmonthMusikalische Leitung:Markus Stenz

Schrekers 1918 uraufgeführte Oper „Die Gezeichneten“ stellt nicht nur  – quantitativ wie qualitativ – enorme Anforderungen an Orchester und Solisten. Und der Regisseur hat nicht nur eine schwül-exaltierte, symbolistisch aufgeladene Handlung zu vermitteln. Er muss sich zu alledem auch noch mit der Problematik der Darstellung von Gewalt und Schönheit auf der Bühne des multimedialen 21. Jahrhunderts befassen, und zwar möglichst ohne Zuflucht zu platter Drastik oder verharmlosender Stilisierung zu nehmen.

Patrick Kinmonth begegnet der Herausforderung mit einer ungewöhnlichen Raumkonzeption und einer auf etlichen Ebenen angesetzten kleinteiligen Verfremdungsmechanik. Er hat seine Spielfläche zwischen zwei Tribünen gesetzt. Ohne Trennung durch den schützenden Orchestergraben wird der nur teilweise direkt angespielte Zuschauer automatisch zum Voyeur. So erhalten die Vorgänge um den missgestalteten Alviano, der seine als Ort vollkommener Schönheit konzipierte Insel und die geliebte herzkranke Malerin Carlotta an den Kraftprotz und Charmebolzen Tamare verliert, trotz der gewaltigen Dezibelzahlen von Schrekers Orchestersatz anfänglich eine erstaunliche Intimität.

Die Bühne stellt eine Art Schrottplatz dar mit Autowracks und Alviano im Overall. Hier besprechen die Adeligen in Renaissancekostümen ihre Vergewaltigungspläne. Hier tritt Carlotta sowohl als Settecento-Diva als auch als heutige Boheme-Malerin auf. Hier liegt der tote Tamare zu Beginn als Puppe auf der Bühne. Am Ende, als er laut Libretto tatsächlich umgebracht wird, geht der Sänger dann „lebend“ ab. Vieles passiert gleichzeitig, auch aneinander vorbei. Einbildung und objektive Aktion verschwimmen. Trotzdem funktioniert die eigenwillige Konstruktion bis zur Pause vorzüglich, wegen Kinmonths ausgefeilter Personenführung und der zwingenden Darstellung der der Musik abgelauschten unterdrückten Aggression, die allen Figuren gemein ist. Und Stefan Vinke und Nicola Beller Carbone machen die beiden großen Begegnungen Alvianos mit Carlotta leidenschaftlich zu ausufernden wie packenden Miniaturen.

Nach der Pause ist der Schrottplatz notdürftig mit Gemälden verkleidet, die aussehen, als hätte ein verklemmter Pollock-Jünger sich mal so richtig austoben dürfen – und soll als idealer Ort durchgehen. Der Chor kommt dazu, auch Statistenhorden in wechselnden Rollen. Jetzt überwuchert Dekoration das Psychogramm zwanghaft monströser Individualitäten. Die Gegensätze laufen aus dem Ruder. Den elegant in individuelle Roben gekleideten Adeligen etwa wird als Opfer eine weibliche Statistenriege entgegengestellt, durchchoreographiert in Verfügbarkeit signalisierender uniformer Straßeneleganz. Die vorher so differenzierte Alviano-Figur wird eindimensional und uninteressant. Die Handlung wird handwerklich sauber zu Ende gebracht, scheint aber nur bedingt zu Ende gedacht. Das Chaos, das noch in die Applausordnung hineinwuchert, erschreckt nicht mehr, es ermüdet.

Musikalisch bewältigt die Kölner Oper die Herausforderung tadellos. Markus Stenz legt der aus so vielen Richtungen kommenden, in so viele Richtungen strebenden Musik elegant Zügel an und gewinnt ihr dadurch weit mehr als nur Brillanz und Effekt ab. Namentlich im ersten Akt klingt das Gürzenich-Orchester reich wie lange nicht, etabliert fast eine Dialektik von Rausch und Durchsichtigkeit. Auch die zahlreichen Solisten singen sämtlich rollendeckend, einige sogar herausragend wie Oliver Zwarg als ungemein präziser Herzog oder Ralf Rachbauer als lebensfroh schmetternder Lohnentführer.