Foto: Brittens "The turn of the Screw" an der Berliner Staatsoper im Schillertheater © Monika Rittershaus
Text:Georg Kasch, am 17. November 2014
Diese Frau hat ein Problem: Schon zu Beginn fällt sie das erste Mal um, auch später findet sie sich des Öfteren in der Horizontale wieder. Hysterie? Manische Depression? Psychose? Man weiß es auch nach knapp zwei Stunden nicht, aber klar ist: Das Problem liegt bei und in ihr.
Womit Claus Guth in seiner zweiten Inszenierung an der Berliner Staatsoper schon einige Deutungsmöglichkeiten ausgeschlossen hätte. In Benjamin Brittens Kammeroper „The Turn of the Screw“ nach einer Erzählung von Henry James bleibt die Situation noch nach vielen Seiten hin offen: Eine junge Frau kommt als Erzieherin in ein Landhaus, wo die beiden Kinder zunächst brav, dann zunehmend diabolisch erscheinen, was die namenlose Governess zwei Geistern in die Schuhe schiebt, die ihr (und den Kindern?) erscheinen.
Nichts Genaues weiß man nicht: Sind die Kinder besessen oder sie selbst? Spukt’s wirklich oder nur in ihrem Kopf? Handelt es sich bei den Kindern um verdorbene oder nur um (früh-)pubertierende Gören? Projiziert das hypermoralische Fräulein ihr unterdrücktes Begehren auf die Kinder? Und wenn ja, warum greift eigentlich die Haushälterin Mrs Grose erst so spät ein?
Guth, der an der Staatsoper schon in „Aschemond oder The Fairy Queen“ einer komplizierten Frauenseele nachspürte, setzt einmal mehr die Drehbühne in Gang, auf die ihm Christian Schmidt ein gespenstisch solides Landhaus-Interieur gebaut hat. Immer wieder tun sich neue Gänge und Zimmer auf, die im Dunkeln münden, verändern sich Details, flackert fahles Stummfilm-Licht. Das erinnert ebenso wie die uniformierten Kinder in ihren strengen Choreografien und das mal lebendige, mal tote weiße Kaninchen an Horrorstreifen wie Stanley Kubricks „Shining“: Auch dort war das Hotel-Labyrinth ja ein Bild für den zunehmenden Wahnsinn von Jack Nicholsons Charakter.
Zwei dramaturgische Entscheidungen spitzen Guths Lesart vom Psycho-Problem der Governess zu: Von den Geistern Peter Quint und Miss Jessel hört man nur die Stimmen, elektronisch verstärkt. Und die Kinder Miles und Flora sind hier keine zehn und acht, sondern mindestens 16 bis 18 Jahre alt. Was möglich wird, weil kein Knabensopran (wie bei Britten vorgesehen), sondern der junge Countertenor Thomas Lichtenecker Miles singt – und wie! Erstaunlich kraftvoll ist diese schmeichelnde Weichheit, halb kindlich noch, halb männlich drängend, die lockt und verführt und zugleich um Schutz bettelt.
Kein Wunder jedenfalls, dass sich Emma Bells Governess in diesen lasziven Jüngling verguckt, zumal der und seine Schwester Flora, die Sónia Grané mit bewundernswert lyrischer Hinterfotzigkeit singt, es einzeln und miteinander nicht an sexueller Eindeutigkeit fehlen lassen. Bell, die vor zehn Jahren an der Komischen Oper eine phänomenale Alcina kreierte, mischt von Anfang an ein hysterisches Flackern in ihre Stimme. Immer wieder streift sie sich das strenge Kostüm glatt, richtet sich die Haare, kurz: diszipliniert sich bis zum Umfallen. Um sich dann doch zu einem Kuss hinreißen zu lassen – und am Ende zum Mord an Miles, den sie einhändig erwürgt.
Eine weitere Eindeutigkeit, unter der die Spannung dieses Abends leidet. Hier wird nicht Quint zum Gegenspieler der Governess, der körperlich abwesend ist und bei Richard Croft auch stimmlich wenig an Kontur gewinnt. Sie ringt mit Miles und Flora, ein wenig auch mit Marie McLaughlins Mrs Grose, deren anfängliche Herzlichkeit immer öfter verzerrt erscheint – auch ihr Sopran gewinnt zunehmend an Schärfe. Vor allem aber mit sich selbst. Und das macht Bell großartig. Ihr Gesicht wird dabei zum Seelenspiegel, wo sich wohlanständige Selbstzufriedenheit und Panik, grimmige Lust und Sehnsucht gegenseitig bekämpfen wie in ihrem Gesang – wenn sie ihr nadelspitzes Piano auspackt, weiß man: Jetzt wird’s gefährlich.
Im Orchester pochen unterdessen die erotischen Leidenschaften, die Ängste, das Begehren. Obwohl Ivor Bolton es an der Spitze des Kammerorchesters nicht an aufgeregten Zuspitzungen mangeln lässt, hält er doch die filigrane Mehrschichtigkeit der Musik offen. Anders als Guths Psychogramm einer Frau, die an sich selbst und ihrem (uneingestandenen) Begehren scheitert. Eine Erzählung, die in sich schlüssig ist. Aber sie opfert Brittens packende Ambivalenz, so dass sich statt der titelgebenden Dringlichkeitsschraube am Ende nur die Bühne dreht.