Foto: Durch eine Plexiglasscheibe getrennt: Winnie (Antonia Schirmeister) und Willie (Ulrich Rechenbach) © Marco Piecuch/Pi-Pix
Text:Hans-Christoph Zimmermann, am 20. Juni 2020
Slapstick beschreibt eigentlich ein Entsetzen. Jenes darüber nämlich, dass sich die Ordnung der Dinge auflöst und sich die Gegenstände des Alltags der menschlichen Beherrschung entziehen. Nichts strukturiert Winnies „glückliche Tage“ mehr als diese Ordnung der Dinge, die sie in einem Sack versammelt. In Neuss sind die Dinge nicht nur nicht an ihrem Platz, nämlich in einer Tasche. Winnie (Antonia Schirmeister) kann sich der kniend-triumphierenden Pose, die ihr der aufgespannte Regenschirm aufzwingt, weder entziehen, noch sie auflösen. Der Triumph des Objekts. Und auch ihr Körper scheint kaum ihrem Willen zu gehorchen. Arme und Beine machen sich selbstständig, zwingen sie in Haltungen, über die Winnie kaum noch eine Verfügungsgewalt zu haben scheint.
Ob die coronabedingte kleine Beckett-Renaissance besetzungstechnisch oder doch inhaltlich begründet ist, sei mal dahingestellt. Parallelen zwischen der Zeiterfahrung in „Glückliche Tage“ und dem Lockdown liegen allerdings derart zwingend auf der Hand, dass der Gedanke daran schon Klischee ist. Am Rheinischen Landestheater Neuss inszeniert Intendantin Caroline Stolz Becketts Klassiker um das Ehepaar Winnie und Willie und ihren erinnerungssatten und quälenden Lebensabend. Während sie in einem wachsenden Erdhügel steckt und monologisiert, dämmert ihr Partner in einem Erdloch vor sich hin. Becketts Purismus ist legendär, die endlosen Regieanweisungen der „Glücklichen Tage“ sind es auch. In Neuss gibt es weder Erdhügel noch grelles Licht, sondern nur einen Plexiglaskäfig, in dem Winnie feststeckt. Eine Gefangene, die mit dem Weckerklingeln neu erwacht. Winnie trägt ein weißes Hemd zu schwarzem Zylinder, Krawatte, Shorts und durchlöcherte Socken – verortet irgendwo zwischen Stummfilmkomikerin und Businesswoman, Beerdigung und Fest. Sie läuft wie jede gute Komikerin gegen die Plexiglaswand und hält sich die Nase oder sie schminkt sich einen roten Riesenmund. Die Objekte ihres Alltags wie die Zahnbürste oder der Kamm existieren zwar nur in ihrer Vorstellung, doch sie sucht immer wieder nach ihnen. Winnie spielt ganz offensichtlich für ein Publikum, chargiert, kokettiert, zieht ihre Register. Ihren Partner bezieht sie dabei demonstrativ mit ein, doch gelegentlich rutschen ihr messerscharfe Zurechtweisungen heraus. Ulrich Rechenbachs Willie liegt nur mit Unterhose bekleidet wie ein Schmerzensmann auf dem Boden, zuckt gequält und kriecht mühsam zu einer Tasche, der er die Zahnbürste entnimmt. Er schleppt sich mühsam vor einen Scheinwerfer, dessen Licht ihn kurzzeitig wärmt, dann aber zusammenbrechen lässt.
Sind es Restbestände eines früher einmal erfolgreichen Lebens, die sich als gestischer Habitus in Winnies Körper eingefräst haben? Oder manifestiert sich in ihren psychischen Kippfiguren eine borderlinige Persönlichkeit? Oder eher das depressive Unbehagen an der spätkapitalistischen Gesellschaft? Die hermeneutische Großspurigkeit metaphysischer Deutungen ist Caroline Stolz‘ Deutung ebenso fremd wie eine vereinfachende Sehnsucht nach einem ironisierten Best-ager-Realismus. Winnies psychische Landschaft ist ohne ein gesellschaftliches Außen nicht zu denken – Sarah Kane meets Alain Ehrenberg in Neuss. Das wird umso deutlicher, als die Regisseurin Becketts Hauptfigur sukzessive in den Zusammenbruch treibt. Das Klingeln des Weckers wiederholt sich mehrmals und das Erschrecken wird immer atemloser, das zwanghafte Begrüßen eines glücklichen Tages geradezu manisch. Die Gestik verliert ihren Fluss und gerät zum abrupten Zucken. Winnie spielt mit dem Revolver russisches Roulette (was zuvor auch Willie getan hat), deutet den Ausbruch einer ökologischen Katastrophe an und flüstert schließlich nur noch ein verzweifeltes „Willie, hilf mir!“. Doch in dem Maße, wie Winnie den Boden unter den Füßen verliert, gewinnt Willie umgekehrt an Haltung: Er zieht einen Anzug an, räumt die Bühne auf, schaut abschätzig auf seine Partnerin.
Auf ihren Kuss durch die Scheibe reagiert er genauso wenig wie auf ihre Rufe. Kurz vor seinem Abgang öffnet er den Plexiglaskäfig, streichelt Winnie ohne jede Empathie über die Wange und geht ab. Winnie allerdings zieht sich nach einem kurzen Freiheits-Test wieder in ihr Refugium zurück. Caroline Stolz‘ Deutung stellt Winnies individuelles Regime der Angst ins Zentrum, das allerdings nicht psychologisch verengt wird, sondern auf ein gesellschaftliches Substrat bezogen bleibt – ob man das nun Spätkapitalismus, Biopolitik oder Sicherheitsdenken nennt, bleibt jedem selbst überlassen.