Foto: Nico Holonics als überragender Solo-Darsteller in der "Blechtrommel" © Birgit Hupfeld
Text:Volker Oesterreich, am 12. Januar 2015
Das Jahr hat kaum angefangen – schon gibt es einen überzeugenden Kandidaten für den Titel „Schauspieler des Jahres“: Nico Holonics vom Schauspiel Frankfurt. Mehr als zwei Stunden lang gehört die Bühne des Großen Hauses ihm allein. Mehr als zwei Stunden lang meistert er einen großen Monolog. Und mehr als zwei Stunden lang fesselt er mit seinem enormen darstellerischen Facettenreichtum das Publikum. Langen, kräftigen Applaus gibt’s als Lohn, viele erheben sich sogar zu Standing Ovations, während sich Nico Holonics und das Produktionsteam schwarze T-Shirts überziehen mit dem weißen Aufdruck „Nous sommes Charlie“ als Zeichen des stummen Protestes gegen die Terrormorde von Paris.
Zuvor wird auch protestiert, aber in völlig anderer Weise. Da probt Nico Holonics als Oskar Matzerath den Zwergenaufstand gegen das NS-Regime, gegen jegliche Form der Gängelung, sei es in der Schule, im Elternhaus oder während seiner Zeit als 94 Zentimeter kleine Attraktion im Fronttheater. Überall zersingt dieser Gnom Glühbirnen oder Fensterglas und blickt als Schelmenfigur aus der Froschperspektive auf die Katastrophen und Kapriolen seines Daseins. Oskar Matzerath, der Held aus Günter Grass’ Jahrhundert-Roman „Die Blechtrommel“, triumphiert einmal mehr. Seine „Story“ war nicht nur einen Literatur-Nobelpreis und in der Verfilmung durch Volker Schlöndorff einen Oscar wert, der zum Monolog eingedampfte 800-Seiten-Wälzer wirkt auch auf der Bühne preisverdächtig gut. Oliver Reese, der Frankfurter Hausherr, ist für die Theaterfassung und die Regie verantwortlich. Ein versierter Spielmacher, der schon andere große Literatur-Brocken wie Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“ oder Vladimir Nabokows „Lolita“ theatertauglich zurechtgestutzt hat, Letzteren ebenfalls als Monolog.
Natürlich musste Reese enorm viel weglassen, zum Beispiel die ganze Rahmenhandlung aus der „Heil- und Pflegeanstalt“, als deren Insasse Oscar Matzerath seine Lebensgeschichte erzählt. Gestrichen auch die Nachkriegskapitel und viele weitere Handlungsstränge. Aber das Konzentrat hat es in sich, es setzt ähnliche Schwerpunkte wie Schlöndorffs Drehbuch.
Nico Holonics lässt die Brausepulver-Erotik Oskars schäumen. Er blechtrommelt sich als Einzelkämpfer durch ein vielschichtiges Stationendrama und verwandelt das schlichte, dunkle Torfrechteck, auf dem er spielt (Bühnenbild: Daniel Wollenzin), in einen kaschubischen Kartoffelacker von Weltformat. Wir erinnern uns: Auf jenem Kartoffelacker, genauer gesagt unter den vier Röcken von Oskars Großmutter Anna Bronski, beginnt an einem „Oktobernachmittag des Jahres neunundneunzig“ mit der Zeugung von Oskars Mutter Agnes die ganze weit ausufernde Chose. Holonics spielt so, dass wir die vier wallenden Röcke Annas vor uns zu sehen glauben. Er denkt, fühlt, zappelt und trommelt sich von der Mutter- in die Vater- und Stiefvater-Rolle, parodiert eine Propaganda-Kundgebung der Nazis, die im Trommel-Rhythmus walzerselig ad absurdum geführt wird, und er züngelt lüstern nach den erogenen Zonen der pubertär geliebten Maria, die nicht nur nach Walmeister- und Himbeerbrause schmeckt, sondern auch ganz wunderbar betörend nach Vanille duftet. Kraft der Darstellung glaubt man in den Zuschauerreihen, diesen Vanille-Duft selbst zu wittern. So sinnlich ist Theater selten.